Röslein rot
erklären.
Von da an lag ich vormittags im Bett - wie sie -, am Nachmittag ging ich in einem Cafe kellnern. Dabei lernte ich viele Leute kennen, Ausländer und Einheimische, Studenten und Schüler. Nicht eben selten führte ich ganz privat einige auserlesene Touristen durch die Stadt und ließ mich dafür zum Abendessen einladen. Solche Freunde verschliß ich so rasch wie meine schwarzen Strumpfhosen. Es war zwar eine Zeit der großen Freiheit, der ich nachtrauere, aber ich hatte ständig ein schlechtes Gewissen, weil meine Mutter mir weiterhin das Studiengeld überwies. Wenn ich sie an ihrem Geburtstag und an Weihnachten besuchte, mußte ich lügen. Beim Telefonieren fiel mir das nicht weiter schwer, aber wenn ich ihr Auge in Auge gegenübersaß, war es gräßlich. Doch ich tröstete mich damit, daß sie immerhin nicht arm ist.
Mein erster Freund hatte den vielversprechenden Namen Gerd Triebhaber. Er nannte mich »Röslein«, weil er den Namen »Annerose« für unzumutbar hielt. Ich glaubte lange, ich würde der lieblichen Weise »Sah ein Knab' ein Röslein stehn« diesen Kosenamen verdanken. Eine Freundin klärte mich darüber auf, daß Goethe eine nur leicht verkappte Vergewaltigungsszene geschildert habe. Nun wollte ich nicht mehr »Röslein« heißen, wenn auch Gerd behauptete, daß es nichts mit unserer ersten Nacht zu tun habe, sondern einzig die Kurzform für »Neuröslein« sei. Er hielt mich für ziemlich gestört.
Nun, wenn man in einem kranken Bett aufgewachsen ist, hat man wohl das Recht auf ein paar kleine Überspanntheiten. Ich ekle mich zum Beispiel vor Milch, vertrage keine Wimperntusche und reagiere allergisch auf diverse Substanzen; dafür kann ich trinken wie der Zwerg Perkeo, ohne daß man mir etwas anmerkt. Ich bitte andere Leute darum, meinen Wagen vollzutanken, weil ich den Anblick des gefräßigen Geldanzeigers nicht aushalte. Ich kann nur addieren und nicht subtrahieren. Es gibt noch ein paar weitere Macken, die ich nicht alle verraten möchte - aber es ginge zu weit, wenn man mich als neurotisch bezeichnen würde.
Viel eher kann man das von meiner Mutter behaupten. Meinen Vorschlag, das gesunde Bett abzuschaffen und nur noch im kranken zu schlafen, da es doch komfortabler sei, lehnte sie entrüstet ab. Der Grund war eine neue Marotte. In der Adventszeit hatte sie einen Teddybär-Bastelkurs besucht, um ein hübsches Geschenk für die Enkelkinder herzustellen. Aber sie konnte sich nicht von ihrem plüschigen erstgeborenen Petz trennen, sondern zeigte Ehrgeiz, weitere Zotteltiere zu erzeugen. Nach und nach wurde das zweite Bett von Braun-, Schwarz- und Eisbären besiedelt, von Grislys, Pandas und Koalas, brummenden Kragen- und Waschbären. Es erfordert mittlerweile schon einen vehementen Einsatz, um abends abwechselnd das gesunde oder das kranke Bett zu entvölkern. Und jetzt will sie auch noch einen Puppenkurs absolvieren. Ich nehme an, daß sie irgendwann ein Drittbett braucht.
Ich bin als Einzelkind aufgewachsen. Wenn das allerdings so klingt, als ob ich keine Geschwister hätte, dann stimmt das nicht ganz. Mein Vater hatte aus erster Ehe eine Tochter, meine Halbschwester. Sie ist älter als meine Mutter. Dieses Wesen - Ellen heißt es - hatte ich in meiner Jugend genau viermal gesehen, und anläßlich von Vaters Beerdigung saßen wir immerhin eine Stunde lang nebeneinander. Zu Weihnachten schrieben wir uns nichtssagende Karten. Ellen verübelte es mir bestimmt, daß unser gemeinsamer Vater ihre Mutter verließ, um die meine zu heiraten, obwohl es zwei Jahre vor meiner Geburt geschah. Doch falls sie meine Mutter für einen mannstollen Vamp hielt und ihr unterstellte, die intakte Ehe ihrer Eltern zerstört zu haben, so konnte ich mir keinen absurderen Verdacht vorstellen. Meine Mutter ist ein Schaf, das meinen Papa allenfalls durch Blöken in den Stall gelockt hat. Weiß der Himmel, wie es geschah, daß sie schwanger von ihm wurde. Als dann mein Bruder zur Welt kam, ließ Vater sich von seiner ersten Frau scheiden. Er hatte sich ein Leben lang einen Sohn gewünscht.
Tragischerweise starb der kleine Junge nach etwa einem Jahr durch einen Unfall. Ohne lange Wartezeit wurde ich gezeugt. Als mein Vater hörte, daß das Ersatzkind ein Mädchen war, wurde er krank; ich habe ihn fünfzehn Jahre lang nur mehr oder weniger bettlägerig und leidend erlebt. Woran er litt, erfuhr ich erst, als ich ins Gymnasium kam und von heute auf morgen als »großes Mädchen« galt: Das goldgerahmte Foto
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