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Röslein rot

Röslein rot

Titel: Röslein rot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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die Wölbung eines handwerklich sauber gearbeiteten Korpus, ein Glas Rotwein und ein Weißbrot recken ihr Profil gegen die gemauerte Zimmerwand. Auf dem hellen Buchentisch liegen ein Kartenspiel und eine Geldbörse aus dunkelgrünem Samt. Den graphischen Blickfang aber bildet ein schwarzweißes Schachbrett, dessen exakte Geometrie mit der Unregelmäßigkeit von Blumen, Brötchen und faltigem Beutel kontrastiert.
    Die Laute steht fürs Gehör, der Wein für den Geschmack, die Nelke für den Geruchssinn, die Spielkarten fürs Auge, das buckelige Brot für den Tastsinn. Anscheinend symbolisiert das Schachbrett den kalkulierenden Verstand als ebenfalls dazugehörig. Nur der rätselhafte sechste Sinn, der allen anderen Sinnen überlegen scheint, konnte nicht durch den Pinselstrich des Malers Gestalt annehmen.
    Es gibt geniale Schachspieler, die nach rein mathematisch-logischen Kriterien ihren Kontrahenten regelmäßig mattsetzen. Man kennt aber auch solche, die dank übersinnlicher Fähigkeiten die Schwäche des Gegenspielers erfühlen. Sie haben gute Chancen, Vizeweltmeister zu werden, können aber mit ihrer Einfühlungsgabe keinen Computer beeindrucken.

    Meine eigenen Sensorien schwanken zwischen neurotisch-verzerrter und kreativ-sensibler Wahrnehmung. An jenem Abend, als ich mit schmerzendem Fuß und krankem Herzen auf dem Sofa lag, beschloß ich, mich nicht bis ans Ende meiner Tage zu bemitleiden, sondern mich ganz auf eine Lösung meiner Konflikte zu konzentrieren.
    Die Kinder leitete ich zum Kochen, beziehungsweise zum Aufwärmen eines Fertiggerichts an. Sie trugen ihre Teller mit heißer Lasagne zu mir ans Sofa, hockten sich auf den Boden, kleckerten Tomatensoße und aßen genüßlich vor laufendem Fernseher. Reinhard - auch wenn er ohne Fischbesteck und Serviettenring in Backnang aufgewachsen war - hätte diesen Verfall bisheriger Sitten nicht gutgeheißen. Vor allem Jost schlug sich den Bauch so voll, daß ich Reinhard bereits sagen hörte: »Wenn mer de Jostel net hädde, dann müßte mer e Sau herdo!« Dafür waren die Kinder aber dermaßen von der Gemütlichkeit dieses Abendessens beeindruckt, daß sie sich bereit erklärten, bei Reinhards Ankunft in ihre Zimmer zu verschwinden. »Ich muß allein mit dem Papa reden«, sagte ich geheimnisvoll.

    Also fand mich Reinhard zwar nicht in Gesellschaft der Kinder, dafür aber mit dramatisch umwickeltem Fuß und Leidensmiene vor. Ob es bloß Verstellung war, als er erschrocken ausrief: »Was hast du denn angestellt?«
    Nun war es vorbei mit meiner Zurückhaltung, ich sprudelte los: Silvia, Silvia, Silvia. Sie habe ihr Verhältnis mit Reinhard selbst zugegeben, er könne es daher nicht mehr abstreiten! Außerdem sei sie in der ganzen Stadt herumgelaufen und habe mich verleumdet. Als ob sie diese Niederträchtigkeit noch überbieten müsse, habe sie mich beinahe umgebracht. Was sie bei Udo bereits geschafft habe.
    Reinhard schüttelte immer wieder den Kopf, unterbrach mich aber nicht. »Warst du schon beim Arzt?« fragte er schließlich. »Der Fuß muß geröntgt werden. Aber ich habe eher den Eindruck, daß du auf den Kopf gefallen bist.«
    Ich geriet aus dem Konzept, schob die Wolldecke beiseite, die Lara über mich gebreitet hatte, und zeigte meine Verletzungen. Inzwischen war das Bein bis zum Knie heftig angeschwollen, und als ich den Rock ganz hochstreifte, bewiesen mehrere blutige Schrammen und pflaumengroße Beulen, daß ich kein Hypochonder war.
    Reinhard ging zum Telefon und rief unseren Hausarzt an. »Meine Frau hatte einen kleinen Unfall«, hörte ich ihn sagen.
    »Dr. Bauer will zwar nicht kommen, aber ich soll dich ins Auto packen und hinfahren«, brummte er und brachte mir meinen rechten Schuh und einen seiner Pantoffeln. Ich stützte mich auf seinen Arm und humpelte zum Wagen. Als ich schließlich drinnen saß, kam mir siedendheiß der Verdacht: Wir fahren überhaupt nicht zu Dr. Bauer, sondern geradewegs zum Steinbruch, wo Reinhard mit dem Wagenheber auf mich einschlagen wird.
    Doch wir blieben auf dem richtigen Weg; Reinhard bog nicht in die steile Straße zum Wachenberg ab. Plötzlich hielt er an. »Eines muß ich wissen«, sagte er nervös. »Wie kommst du auf die absurde Idee, Silvia habe Udo ermordet?«
    War es diplomatisch, daß ich in diesem Moment Gerd Triebhabers Analyse ins Feld führte? So wie ich mich einige Stunden zuvor Silvia ausgeliefert hatte, war ich jetzt Reinhard preisgegeben, nun allerdings verletzt und kampfunfähig. Aber ich hatte

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