Roeslein tot
war. Es würde also nur wenige Tage dauern, bis ich wieder Anschluss an die Welt bekam. Dass es drei Tage und vier Nächte werden sollten, in denen meine ganze Aufmerksamkeit gefragt gewesen wäre, konnte ich doch nicht wissen!
Sechs
Bis zum Freitagmorgen vegetierte ich in einem Dämmerzustand vor mich hin. Ab und zu sah ich die Anni oder den Sepp auf geräuschlosen Sohlen vorbeikommen, dann wieder nur das immer gleiche Bild der Rosen, die sich stumm im Luftzug wiegten. Nachts schlief ich wie ein Murmeltier in totaler Stille und Dunkelheit.
In der Nacht zum Freitag weckte mich ein Leuchten wie von einer Taschenlampe und ließ mich blinzeln. Ich dachte: Was will der Sepp mit einer Taschenlampe? Es wäre doch viel einfacher, wenn er die Außenbeleuchtung des Fahrzeugschuppens anschalten würde. Bevor ich lange darüber nachdenken konnte, war ich schon wieder weggedämmert.
Die ersten Sonnenstrahlen des nächsten Morgens weckten mich endgültig und brachten meine einzige überlebende Knospe zur Entfaltung.
So ziemlich die erste Neuigkeit, die mir meine wiedergewonnenen Sinne vermittelten, war die, dass mein geliebter Gärtner verschwunden war. Darauf hätte ich gerne verzichtet. Aber was war vorher los gewesen, in der Zeit meiner Isolation? Über die Vorgänge in der Küche wusste der Weihnachtskaktus Bescheid.
Am Dienstagmorgen war der Jens im Anzug beim Frühstück erschienen. Nachdem er den Kaffee mit einem Zuckertütchen aus seiner Sammlung gesüßt und leer getrunken hatte, ging er zur Türe. Er hatte ein blechernes Aktenkofferl in der Hand wie die Vertreter der Spritzmittelfirmen, die ab und zu in der Gärtnerei vorbeischauen.
»Bringt mich jemand zum Bahnhof?«, fragte er in den Raum hinein. Doch er kannte die Antwort schon, und die kam auch prompt: »Naa, i hob koa Zeit und de Anni aa ned.«
»Gut, dann nehme ich eben ein Taxi. Ihr müsst es ja wissen. Es ist schließlich nicht nur mein Geld, sondern auch eures.«
Die Anni schaute ganz betreten, doch gesagt hat sie nichts. Und dann war der Jens weg.
Der Sepp und die Anni sind die folgenden Tage ganz normal ihrer Arbeit nachgegangen, das bestätigten auch die Rosen. Aber ab Donnerstagabend war nichts mehr normal. Der Weihnachtskaktus wiederholte extra für mich die Ereignisse der Nacht: wie die Anni vergeblich auf den Sepp gewartet hat und wie der Jens mitten in der Nacht heimkam und überhaupt nicht beunruhigt war.
Der Kaktus konnte mich sogar den Geschmack der Tränen nachfühlen lassen, die von Annis Wangen auf seine Gliederblätter getropft waren.
Und am Ende hat sich ihre Sorge leider bewahrheitet, wie wir alle soeben miterleben mussten.
Ich höre den Leichenwagen, der den Sepp auf Nimmerwiedersehen fortbringt, durch das Gärtnereitor fahren. Der Polizei-Einsatztrupp steigt in den Mannschaftswagen und verschwindet ebenfalls. Nur der Stuhlinger und der Wellmann dümpeln noch zwischen den Rosen herum.
»Wellmann, sobald wir wieder auf dem Kommissariat sind, überprüfen Sie, ob Herr Schultes wirklich in der Baumschule ›Timm von Ehern‹ war, und wenn ja, wie lange. Jetzt schauen wir erst mal beim ›Café am Anger‹ vorbei, ob die Eheleute Schultes dort waren und was man dort sonst noch weiß. So ein Café ist oft ein Umschlagplatz für Informationen.«
Eigentlich wäre das für die Ermittlungen nicht unbedingt notwendig, doch der Stuhlinger hat jetzt richtig Lust auf einen klassisch geschmacksneutralen Filterkaffee wie bei Muttern. Aus seinen Poren steigt ein Hauch der Erinnerung an diesen lieblichen Duft, der uns Pflanzen nicht verborgen bleibt.
»Außerdem gibt es hier sicher noch echten Filterkaffee. Den kriegt man ja kaum noch in der Stadt. Dafür muss man in ein Kaff wie dieses.«
Ich könnte ihm sagen, dass er sich falsche Hoffnungen macht, denn im »Café am Anger« hat der Fortschritt Einzug gehalten. Aber er würde mich nicht verstehen.
Die beiden Kriminalisten verlassen mein Blickfeld und werden auf ihrem Weg von keiner Pflanze mehr beobachtet, bis der kümmerliche Bergahorn hinten am Pfarrhaus einen kurzen Blick auf sie erhascht, wie sie durch die Seitengasse zum Anger spazieren. Dort angekommen, bieten sie ein begehrtes neues Ziel für die Aufmerksamkeit der Angerlinden. Im Blätterdach rauscht es sofort: »Fremde in Reindlfing! Haben sie wohl etwas mit den schrecklich aufgeregten Molekülen zu tun, die aus der Gärtnerei zu uns herüberwehen?«
Ich kläre die Linden darüber auf, was heute Morgen bei uns passiert ist. Die
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