Rolandsrache
vergangenen Tage recht sauber, doch dort stank es nicht nur nach Urin. Ihr Magen begann zu rebellieren, worauf sie ihre Schritte beschleunigte. Kein Wunder, dass sich dort kaum eine Menschenseele freiwillig aufhalten wollte und sich nur die Ärmeren dorthin verirrten.
Anna beobachtete, wie ein Bauer geduldig auf sein Ochsengespann einredete, das sich schlicht weigerte, seinem Herrn zu folgen. Sie sah einen Moment lang zu, dann setzte sie ihren Weg fort. Als sie an einem Bäcker vorbeikam, sog sie die Luft in ihre Nase. Es roch nach frischem Brot, Lebkuchen und Honiggebäck. Von den fünf Kirchen, die in Bremen standen, war der St.-Petri-Dom, dessen Turmspitze hoch in den Himmel ragte, die gewaltigste. An seinem Fuß begann der Markt. Fahrende Händler von außerhalb und heimische boten hier zweimal die Woche an vielen Ständen ihre Waren an. Anna ließ ihren Blick über den Platz gleiten, doch zu ihrer Enttäuschung war die alte Theresa, die Maronenverkäuferin, nicht zu sehen, und so schritt sie eilig weiter.
Je näher sie dem Marktplatz kam, umso mehr Baustellen sah sie, und auch um den Marktplatz herum entstanden neue Gebäude. Eins davon war das Rathaus, an dem Claas und ihr Vater vor dem Auftrag für den Roland mitgearbeitet hatten. Es war außen beinahe fertig und sah mit seinen Giebeln und Erkern, den Figuren und teuren Butzenfenstern, in denen sich das Sonnenlicht brach, einfach wunderschön aus. Noch immer waren Handwerker im Inneren beschäftigt, und sie vernahm emsiges Klopfen und Sägen. Die Stadt baute schon seit ein paar Jahren daran, und es würde auch noch eine Weile dauern, bis die Ratsherren dort Quartier beziehen konnten. Auf der Westseite fiel ihr Blick nicht ohne einen gewissen Stolz auf die Statue von Aristoteles, welche die Wand zierte. Ihr Vater hatte sie gehauen und sie selbst dabei mitgeholfen. Anna erinnerte sich an jeden Knüpfelschlag, den sie einst für die Buchstaben seines Namens getan hatte.
Schließlich betrat sie das Domus Consulum, das alte Rathaus, in dem zwölf Ratsherren und, wenn vorhanden, ein Bürgermeister die Stadt leiteten. Doch Letzteren gab es seit einer Weile nicht mehr, und man munkelte, dass der Rat sich nicht darauf einigen könne, einen neuen zu bestimmen. Zu ihrer Überraschung wurde sie von einem Amtsdiener sofort zu Johann Hemeling vorgelassen.
Der Ratsherr trug ein Hemd mit flatternden Ärmeln, die üblichen Beinlinge, seine rot bestickte Ratsschärpe und eine Goldkette mit dem Bremer Schlüssel um den Hals. Als Anna in den Raum kam, trat er hinter seinem Schreibpult hervor und drückte ihr sein Beileid über das Unglück aus. Dann bot er ihr einen Stuhl in seiner gut beheizten Amtsstube und etwas zu trinken an. Als er ihr Mantel und Wollmuff abnehmen wollte, lehnte sie dankend ab. So waren wenigstens ihre zitternden Finger vor seinen Blicken geschützt.
Er umrundete sein Stehpult, wischte sich die tintenverschmierten Hände ab und setzte sich ihr gegenüber in einen gepolsterten Sessel. »Liebe Anna, was führt dich zu mir, kann ich etwas für deine Familie tun?«
Noch nie war sie hier gewesen oder hatte mit jemandem über Dinge gesprochen, die die Arbeit ihres Vaters betrafen, und sie hoffte, die richtigen Worte zu finden. »Ja, Herr Hemeling, das könnt Ihr.« Sie wunderte sich, wie fest ihre Stimme in diesem Moment klang.
»Dann lass mich hören, was es ist.« Er sah sie mit freundlicher Miene an. Anna hielt seinem Blick stand und senkte nicht wie gewohnt die Lider.
»Es geht um den Auftrag, den mein Vater von Euch angenommen hat …« Sie stockte kurz, da es ihr noch immer schwerfiel, von ihm in der Vergangenheit zu sprechen. »Da er nicht mehr unter den Lebenden weilt und Claas verletzt ist, befürchte ich, dass er nicht rechtzeitig fertig wird.«
»Ich habe erwartet, dass damit jemand von euch zu mir kommt, auch wenn ich eher mit Claas gerechnet habe.« Er lächelte, und Anna schöpfte Hoffnung.
»Können wir den abgemachten Zeitpunkt um ein halbes Jahr verschieben?« Sie suchte nach einer Regung in seinen Zügen und fand Erstaunen.
»Oh.« Er musterte sie einen Moment, dann schüttelte er bedauernd den Kopf. »Ich dachte, dass du mich nun bittest, die Arbeit jemand anderem aufzutragen.«
Wider Erwarten schien sich die Sache geradewegs in die falsche Richtung zu bewegen. Sie hätte doch Claas mitnehmen sollen. »Aber wir wollen es selbst versuchen.«
»Es tut mir leid, Anna, doch dieser Termin wurde mir vom Kaiser genannt, und ich kann ihn
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