Rolandsrache
…«, begann Anna, doch Mechthild stupste sie an der Schulter und bedeutete ihr damit zu schweigen. Die Kräuterfrau hatte ihnen Hoffnung gemacht, dass ihre Mutter auf der Beerdigung vielleicht endlich die Wahrheit sehen würde, doch noch trat die Erkenntnis nicht ein.
»Kind, so sag es mir doch endlich! Wem muss ich gleich mein Mitgefühl bekunden?«
Anna ließ resigniert den Kopf hängen. Sowieso hinderte sie ein dicker Kloß im Hals am Sprechen.
Am Ende der Predigt beteten alle laut für die Seele ihres Vaters, dann sang man gemeinsam einen Psalm, und auf das Handzeichen des Priesters erhob sich die Gemeinde, worauf erneut die Totenglocke einsetzte. Der hölzerne Sarg wurde von Claas, Annas Onkel und mehreren Zunftmitgliedern angehoben und auf die Schultern gehievt. Bedächtig verließ die Prozession die Kirche und folgte dem Kirchenmann, welcher im Takt der Glockenschläge ausschritt; in den Pausen verharrte er kurz. Die Sargträger schwankten unter ihrer Last, doch verzog kein Mann eine Miene. Als sie das schmiedeeiserne Portal hinter sich gelassen hatten, bogen sie auf den Weg zum Friedhof hin ab, welcher gleich neben der Kirche lag und von einer Mauer aus Findlingen umringt war. Ihr Schweigen wurde nur von dem Geschrei der Möwen und Kolkraben begleitet, die sich über ihr Eindringen in die Stille anscheinend beschwerten.
Die Trauernden zogen an Gräbern mit kleinen und großen Kreuzen vorbei, bis sie vor einem frisch ausgehobenen Loch in der Erde haltmachten. Ein Stück abseits stand der Totengräber auf seine Schaufel gestützt und beobachtete neugierig die Menschenmenge.
Stumm versammelte man sich um das Grab, und der Geruch nach Schnee und kalter Erde stieg Anna in die Nase. Ihre Verwandten hatten sie und ihre Mutter in die Mitte genommen, und nachdem die Männer den Sarg bedächtig vor dem Loch abgestellt hatten, traten nun auch Claas und ihr Onkel hinter sie. In der Frühe hatten sie von Mechthild die Unterweisung erhalten, auf die Mutter zu achten, wodurch Claas’ Augen beinahe die ganze Zeit auf sie gerichtet waren. Annas Mutter sah sich immer wieder um, als suche sie jemanden, und machte einen überaus verwirrten Eindruck. Ihr Gesicht war bleich geworden, und Anna drückte sanft ihre Schulter, um die sie ihren Arm geschlungen hatte.
In ein Totentuch gehüllt wurde der Vater nun von drei Männern aus dem kiefernen Sarg genommen und in die Erde hinabgelassen; als der Körper unten auftraf, stieg aus dem Grab ein dumpfer Ton empor, der Annas Herz gefrieren ließ. Nun konnte sie ihre unterdrückten Tränen nicht weiter zurückhalten und senkte traurig den Kopf.
Ihre Mutter verharrte still und starrte erst Anna an, dann auf das Grab. Als der Priester ihren Vater aussegnete und zum wiederholten Male den Namen Jacob Olde aussprach, riss sie sich plötzlich von ihrem Arm los und machte mit entsetztem Gesicht einen Schritt auf das Grab zu. »Jacob!«
Claas griff blitzschnell nach ihr und hielt sie fest, ehe sie in die Tiefe rutschen konnte. Einen Moment lang versuchte sie, sich loszureißen, zerrte an der Hand, die sie festhielt, doch dann erwischte Anna sie ebenfalls an der Schulter, und endlich halfen auch Onkel Ludwig und Tante Eva, sie zu bändigen.
»Lasst mich los, das ist mein Mann! Lasst mich, ich muss zu ihm«, schrie ihre Mutter. Doch sie gaben nicht nach, und gemeinsam zogen sie sie wieder auf den festen Boden zurück.
»Jacob! Heilige Jungfrau Maria, nicht meinen Jacob!«, schrie sie erneut und sackte weinend auf die Knie, als sie endlich merkte, dass sie nicht weiterkam. »Jacob, mein Jacob.«
Viele Blicke aus betroffenen Gesichtern waren auf sie gerichtet.
»Gott sei gepriesen! Sie hat es überwunden«, flüsterte Mechthild, die als Einzige erleichtert wirkte, doch Anna nahm es nur am Rande wahr. Hin und her gerissen zwischen der Trauer über den Verlust des Vaters und der Erleichterung über das Erwachen der Mutter, ließ Anna sich ebenfalls auf die kalte Erde sinken und legte tröstend den Arm um ihre Mutter. Jetzt auch noch sie an den Wahnsinn zu verlieren, wäre zu viel für Anna gewesen, und so war sie froh, dass diese nun die schmerzhafte Wahrheit erkannte.
»Oh, mein Jacob«, schluchzte die Mutter und vergrub ihr Gesicht in Annas Schulter. Gemeinsam weinten sie die erleichternden Tränen, und der Priester sprach die letzten Worte, worauf der Totengräber begann, das Grab zuzuschaufeln. Anna spürte eine Hand auf ihrem Arm und blickte sich um. Claas nickte ihr ermutigend zu,
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