Rolandsrache
und in diesem Moment sah sie in seinen blauen Augen, dass er für sie da war und es immer sein würde. Wärme schlich sich in ihr Herz, doch das Aufschluchzen ihrer Mutter wischte dieses zarte Gefühl schnell fort, und Anna wandte sich ihr wieder zu. Als sie schließlich sanft von den Verwandten emporgehoben wurden, vernahm sie wieder das Krächzen der Möwen und Kolkraben, die in den blätterlosen Linden hockten und sie beobachteten.
Ihre Mutter wurde von der Tante und dem Onkel in die Mitte genommen, denn sie war kaum noch in der Lage, sich auf den eigenen Beinen zu halten, und auch Anna selbst spürte zwei stützende Hände unter ihren Armen und blickte in die Gesichter ihrer beiden Basen. Sie waren in diesem Moment kaum mehr mit den albernen Mädchen zu vergleichen, die ihr etliche Male durch ihr Geschnatter auf die Nerven gegangen waren, und sie war jetzt mehr als froh über ihre Anwesenheit. Adelheid wischte ihr die kühle Erde von Mantel und Kleid.
»Danke«, flüsterte Anna und spürte, wie der Druck von Adelheids Hand sich kurz verstärkte.
Der schwitzende Totengräber schüttete Schaufel um Schaufel Erde in das kalte Bett ihres Vaters, und am liebsten wäre Anna dazwischengefahren, hätte laut geschrien, dass er nicht tot sein durfte, doch sie beherrschte sich. Schließlich war ein leichter Hügel auf dem Grab entstanden, und der Priester beendete seine Zeremonie, indem er es ein letztes Mal segnete. Wieder ertönte die Glocke.
Die meisten, teils dunkel gekleideten Menschen kamen Beileid bekundend an ihnen vorüber, allen voran Salomon, der Baumeister, mit dem ihr Vater viele Jahre zusammengearbeitet hatte. Dann folgte geschlossen die Zunft der Steinmetze.
»Bald wird Jacobs Ruhestatt ein schönes Kreuz zieren, wir fertigen es gerade für ihn«, versicherte Fries, ein alter Steinmetz aus der Zunft.
Friedrichs war ein Hüne von einem Mann im fortgeschrittenen Alter, mit ergrautem Bart und breiten Schultern. Würde er nach ihrem Vater der neue Zunftmeister sein? Auch er gehörte zu dem Trauergefolge. Mit gesenktem Haupt bekundete er sein Beileid, und Anna bemerkte, dass er keinen von ihnen direkt ansah. Dann ging er hastig weiter.
Nach ihm traten die Ratsherren Arnd Boller und Bernd Prideney an sie heran; beide waren in teure Pelze gekleidet, und die Schärpe der Ratsmitglieder mit dem Bremer Schlüssel zierte jeweils ihre Brust. Viele Male hatten sie Jacob Olde aufgesucht, um die Baupläne für das neue Rathaus zu besprechen. »Wenn wir euch mit irgendetwas behilflich sein können, wenn ihr etwas benötigt, lasst es uns nur wissen«, versicherten sie einvernehmlich. Auch der Kaufmann und Nachbar Wegener sprach ihnen mit ernster Miene Trost zu und bot seine Hilfe an.
Ratsherr Johann Hemeling folgte mit trauriger Miene. »Frau Olde, Anna.« Er reichte ihnen nacheinander fest die Hand. »Es tut mir aufrichtig leid um den Verlust von Jacob. Vielleicht gibt es euch Trost, dass ich einiges regeln konnte. Anna, es bleibt bei unserer Abmachung.«
Sie nickte ihm unter Tränen dankbar zu, und ihre weinende Mutter schluchzte laut auf. Hemeling bedeutete Claas, ihm zu folgen, was dieser auch tat. Etwas abseits unterhielten sich die beiden, gaben einander dann die Hand, und der Ratsherr verschwand wieder in der Menge.
Mechthild nahm Anna und ihre Mutter herzlich in den Arm, sie kannte die Familie schließlich seit vielen Jahren und stand gut mit ihr. »Magda Olde, ich bedaure euren großen Verlust. Du weißt, wie sehr ich deinen Mann geschätzt habe.«
Annas Mutter sah sie nur mit maßloser Trauer auf dem Gesicht an.
»Wenn sie nicht schlafen kann, gib ihr hiervon fünf Tropfen in den Wein«, flüsterte sie Anna ins Ohr und drückte ihr eine kleine Phiole in die Hand, die Anna in den Mantel steckte.
»Danke, Mechthild, ich weiß nicht, was wir ohne deine Hilfe getan hätten.«
»Du weißt, ich helfe gern, wenn ich kann. Sind die, die euch das angetan haben, bereits gefasst?«
»Nein, es waren nicht einmal die Büttel bei uns, aber Ratsherr Hemeling sagte, er spricht mit dem Vogt.«
»Man wird sie stellen, und sie werden ihrer gerechten Strafe nicht entgehen, dessen bin ich sicher.« Mechthild warf ihr noch einen eindringlichen Blick zu, dann tauchte auch sie zwischen den Menschen unter.
Am Ende trat der Totengräber mit aufgehaltener Hand vor sie, und Onkel Ludwig legte einige Münzen hinein. Der Mann verbeugte sich und ging davon. Schließlich löste sich die Menge in alle Richtungen auf, und nur noch
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