Rolandsrache
fügte Anna hinzu: »Es tut mir leid, ich habe Kopfweh und würde gern in meine Kammer gehen.« Flehend blickte sie ihre Mutter an, die ihr mit einem sanften Augenschließen erlaubte zu gehen.
»Schick mir nur deine Basen herunter, damit sie dich nicht stören. Sie können gleich helfen und einen Eimer voller Rüben schälen«, sagte ihre Tante.
»Danke.« Froh, dem Drängen entkommen zu sein, eilte Anna hinauf.
Nachdem ihre Basen mit mürrischen Gesichtern aus dem Zimmer gegangen waren, legte sie sich auf ihr frisch bezogenes Bett, schob einen Arm unter den Kopf und starrte an die Zimmerdecke aus weißem Kalk. Lavendelduft erfüllte den Raum. Ihre Tante hatte auch ihre Laken damit gespült. Sie gab sich wirklich viel Mühe, es ihnen in diesen Tagen so angenehm wie möglich zu machen. Wie liebenswert sie doch war, ganz im Gegensatz zum Onkel. Vermählen wollte er sie oder ihre Mutter. Dass sich seine Sorgen so schnell lösen würden, damit hatte er vermutlich nicht gerechnet.
Verächtlich schnaubte Anna bei dem Gedanken. Sie würde also bald den Bund eingehen. Damit würde es ihr nun wie den meisten Frauen ergehen, die nicht aus Liebe geehelicht wurden. Warum nur hatte sie geglaubt, sie würde je etwas anderes erleben? Sie war keinen Deut besser dran. Ob arm oder reich, es spielte keine Rolle; sie hatten zu tun, was man von ihnen verlangte.
Der kleine, gezackte Riss in der Decke, der immer zu einem freundlichen Gesicht geworden war, wenn sie ihn nur lange genug anstarrte, wurde dieses Mal zu einer Fratze und lachte höhnisch auf sie herunter. Anna wendete den Blick ab und blickte auf die kleine Truhe, deren Muster aus feiner Schnitzerei sie auswendig kannte und das sie nicht so betrübte.
Sicher, sie konnte sich gegen ihre Mutter auflehnen, sie einfach ihrem Schicksal überlassen, doch das würde sie nie tun. Und eigentlich geschah es Claas ganz recht, denn wenn er sie heiraten wollte, um sich den Meistertitel damit zu verschaffen, dann sollte er wenigstens für sie beide sorgen. Wenn er sie schon nicht aus Liebe heiraten wollte, blieben wenigstens ihrer Mutter der Schuldturm und ein neuer Ehemann erspart. Nach ihrem Vater war ein anderer Mann an Mutters Seite für sie unvorstellbar. Anna fröstelte und zog sich ihre Decke bis zu den Schultern hoch.
Sie fuhr mit den Augen über die Schnitzerei, die kleine Blätter und Zweige darstellte, glitt über die Vertiefungen bis zur Öse, vor der jedoch noch nie ein Schloss gehangen hatte. Gleich darüber war der Griff aus kühlem Metall, den sie schon so viele Male berührt hatte. Langsam begann es draußen zu dämmern. Anna setzte sich auf, zündete das Talglicht an, dann knickte sie ihr Kissen, worauf es doppelt so hoch wurde, und legte sich wieder hin.
Ob wirklich jemand etwas von Claas’ Gespräch mit Karl mitbekommen hatte? Wenn ja, wäre es doch ein großer Zufall, wenn dann ausgerechnet derjenige gegen den Bau des Roland war. Wenn sie es recht überlegte, war auch Claas durch den Überfall und mit der Heirat besser gestellt. Doch er wurde selbst schwer verwundet, und er hatte nicht genug Geld, um jemanden für einen Mord entlohnen zu können. Außerdem kannte sie ihn zu gut – sie würde ihm Derartiges nie zutrauen. Er hatte zu ihrem Vater aufgeschaut und sehr an ihm gehangen. Sein Tod hatte ihn ebenso getroffen wie sie, auch wenn er es nicht so zeigte.
Doch wer sonst konnte hinter all dem stecken? Wer zog die meisten Vorteile aus der Zerstörung des Roland? Friedrichs? Sie kannte ihn, wie die meisten anderen aus der Zunft, von Kindheit an. Er war immer ein verschlossener Mensch gewesen. Seine Frau Ruth sah man seit einigen Jahren nicht einmal mehr bei der Messe, weil sie so schlimm von Gicht gezeichnet sein sollte, hieß es. Hin und wieder stritten die Männer aus der Zunft miteinander, das hatte sie selbst einige Male auf den Baustellen erlebt, aber ein Mord war etwas, das sie keinem von ihnen je zugetraut hätte.
Annas Gedanken drehten sich im Kreis und wurden jäh von dem Johlen und Lachen ihrer Basen unterbrochen, das zu ihr hinaufdrang. Es folgte das Grollen ihres Onkels, worauf die beiden Mädchenstimmen verstummten. In der folgenden Stille fand Anna zu ihren Überlegungen zurück.
Der Kaiser hatte einen Termin für die Fertigstellung der Statue genannt, jedoch waren seine Gegner sicher nicht erfreut über dieses Zugeständnis und würden vor einem Mord nicht zurückschrecken. Aber wo sollte sie nach diesen Leuten suchen? Wie sehr sie auch
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