Rolandsrache
nachdachte, sie kam im Moment zu keinem Ergebnis.
Draußen färbten die Wolken sich langsam von Rosa zu Dunkelgrau, als es klopfte und ihre Tante zaghaft ihre Nase ins Zimmer steckte. Als sie sah, dass Anna wach war, trat sie mit einem Krug in der Hand ein und setzte sich zu ihr auf die Bettkante.
»Ich bringe dir ein warmes Bier, möchtest du?«
»Ja, sehr gern.« Anna richtete sich auf, nahm es ihr ab und trank einen Schluck.
»Ich habe noch einmal mit deinem Onkel gesprochen. Er war zuerst nicht erfreut, als ich ihm erzählte, dass du Claas heiraten wirst.«
Anna zog ihre Mundwinkel nach unten. »Das kann ich mir denken, aber ich werde bestimmt keinen alten Mann heiraten, nicht freiwillig!«
Beruhigend legte ihre Tante ihr die Hand auf die Schulter. »Das musst du auch nicht. Ich habe ihm gesagt, wie fleißig Claas ist und dass er gut für euch sorgen kann. Ich denke, ich konnte ihn umstimmen. Er ist zwar etwas brummig mit mir gewesen, aber er wird sich schon wieder beruhigen.« Sie zwinkerte ihr verschwörerisch zu.
Auch wenn sie im Moment lieber weglaufen oder gar ins Kloster gehen wollte, anstatt Claas zu heiraten, so war es doch sicher das Klügste, ihn zu ehelichen, und außerdem mochte sie ihn mehr, als es ihr lieb war.
***
Nachdem er die Werkstatt noch einmal kontrolliert und mehrfach umrundet hatte, war er in seine kleine Hütte zurückgekehrt. Erleichtert schloss er die Tür, lehnte sich gegen das kühle Holz und schloss die Augen. Der Streit mit Anna ging ihm nicht aus dem Kopf. Gab sie ihm nun die volle Schuld am Tod ihres Vaters? Hätte er ihr verschweigen sollen, was er selbst befürchtete? Nein. Das wäre nicht ehrlich gewesen.
Draußen pfiff der Wind kräftiger und rüttelte am Balken. Claas öffnete die Augen und ließ seinen Blick durch das Zimmer schweifen. Das Feuer war weit heruntergebrannt, wenn er nichts tat, würde es bald ausgehen. Er ging noch einmal hinaus, spülte seine staubigen Hände und das Gesicht im eisigen Wasser des Brunnens, nahm sich drei Scheite und legte sie drinnen in die Feuerstelle. Einen kurzen Moment sah er zu, wie die Flammen gierig nach dem frischen Holz griffen, das sich knisternd dagegen wehrte, dann goss er sich etwas verdünnten Wein ein und leerte den Becher in einem Zug.
Wie kalt Anna ihn angesehen hatte. Seit dem Tod ihres Vaters hatte sie sich verändert, wirkte entschlossen und zeigte, dass sie nicht bereit war, sich dem Schicksal einfach so zu ergeben. Ganz allein hatte sie mit Hemeling gesprochen, mit einem Ratsherrn, der zudem ein angesehener Patrizier war. Welch ein Mut! Sie war eine stolze Frau geworden, vor allem, wenn er an das kleine Mädchen mit den geflochtenen Zöpfen zurückdachte, das ihnen neugierig bei der Arbeit zugesehen hatte.
Er streifte seine staubige Kluft ab und warf sie achtlos auf den Stuhl. Dann ließ er sich schwer auf das Bett fallen, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte ins Feuer.
Anna würde seinen Antrag ablehnen. Aber er würde bleiben und die Arbeit an der Statue vollenden, und vielleicht würde die Zeit die frisch geschlagene Wunde heilen, und sie konnte ihm verzeihen. Er würde sie nicht im Stich lassen, das war er ihrer Familie einfach schuldig, und er hatte es dem Meister auf dem Sterbebett versprochen.
Nach seiner Rückkehr von der Wanderschaft vor zwei Jahren hatte er begonnen, Anna mit anderen Augen zu sehen. Sie war während dieser Zeit zu einer hübschen jungen Frau herangereift, und ihre kecke Art bezauberte ihn immer wieder aufs Neue. Ihr Mund war ihm so zart wie ein Schmetterling und so süß wie ein Apfel im August vorgekommen, und er schmeckte sie noch immer, als er mit der Zunge über seine Lippen fuhr. Er hungerte danach, ihre Haut an seinem Körper zu spüren. Heißes Verlangen überkam ihn, und er musste tief durchatmen, um den Kopf wieder freizubekommen.
Warum erinnerte er sich jetzt ausgerechnet an die junge Witwe, die er auf seiner Wanderschaft kennengelernt hatte? Für einen Moment sah er Sarahs schwarzes Haar vor sich, dachte an die zärtlichen Stunden, die sie miteinander verbracht hatten. Er seufzte. Er hatte sie begehrt, so wie sie ihn, doch es war keine Liebe im Spiel gewesen.
Ein Klopfen an seiner Tür weckte ihn auf. Er musste über seinen Gedanken eingeschlafen sein, denn draußen dämmerte es bereits. Der Sturm hatte den Fensterladen aufgestoßen und bescherte Claas freie Sicht auf tobende Schneeflocken. Zwei schnaufende Pferde waren vor seiner Hütte angebunden. An
Weitere Kostenlose Bücher