Rolandsrache
verließ die Arbeitskammer des Heilers, der wie alle anderen bereits schlief, und machte sich auf den Weg zu seiner eigenen. Auf dem Gang begegnete ihm Bruder Tiberius, welcher schlaftrunken nickte und nicht ahnte, welch tödliche Mischung Heinrich soeben hergestellt hatte.
7
In den folgenden Wochen änderte sich wenig. Jeden Tag schafften sie bis spät in den Abend an der Figur. Claas verbrachte weiterhin die Nächte in der Kammer, außer wenn er einen seiner Brüder beim Wachehalten ablöste. Er sprach nur das Nötigste mit ihr, und auch seinen Brüdern fiel seine immer düsterer werdende Miene auf.
Mit jedem Tag litt Anna mehr unter der schweren Arbeit. Zwei dicke Blasen an ihren Füßen begannen, sich zu entzünden, und ihre Hände zeigten mittlerweile zahlreiche kleinere und größere Wunden, doch sie biss die Zähne zusammen und jammerte nicht. Auch die fragenden Blicke ihrer Mutter entgingen ihr nicht, wenn Claas in der kleinen Kammer verschwand, statt in der ehelichen. Jedoch spürte Magda wohl, dass Anna nicht darüber reden wollte, und schwieg.
Da die Heilsalbe längst verbraucht war, beschloss Anna, zu Mechthild zu gehen, damit diese sich ihre Wunden ansehen und versorgen konnte. Gleichzeitig war es eine gute Gelegenheit, die Kräuterfrau nach den Gegnern des Kaisers zu befragen, schließlich hörte sie doch eine ganze Menge. Auch wollte Anna endlich in Erfahrung bringen, ob die Büttel etwas herausgefunden hatten, denn seit deren Besuch hatte sie nichts mehr von ihnen gehört. Anschließend könnte sie einen Abstecher ins Rathaus machen und sehen, ob Hemeling etwas Neues wusste. Es stand also für diesen Tag eine ganze Menge an.
Am Morgen nahm Anna ein ausgiebiges Bad, bei dem ihre Mutter ihr wie früher den Rücken schrubbte und die langen Haare wusch. Als sie gerade dabei war, ihr die Kopfhaut zu massieren, hielt sie plötzlich inne.
»Wie geht es mit dir und Claas?«
Unwillkürlich zuckte Anna zusammen. Sie hatte diese Frage schon längst erwartet, doch in diesem Moment kam sie überraschend. »Geht so«, gab sie knapp zurück und hörte, wie ihre Mutter zu einer Antwort ansetzen wollte, doch sie kam ihr zuvor. »Wir haben viel zu arbeiten. Sicher wird es sich bald legen. Sorg dich nicht.«
Magda Olde stieß langsam die Luft aus. »Und darum nächtigt ihr getrennt? Aber wenn du meinst.« Sie seufzte. »Es ist schlimm genug, was dir aufgebürdet wird. Die schwere Arbeit und alles. Aber was sollen wir tun! Wärst du doch ein Junge geworden, wie es sich dein Vater damals gewünscht hat, dann wäre alles einfacher.«
Die Worte verletzten Anna nicht mehr so schlimm wie früher. Ein Sohn wäre in die Fußstapfen ihres Vaters getreten und hätte die Werkstatt übernommen. Damit wäre ihre Mutter die Sorgen los gewesen. Auch Anna wünschte sich manchmal, sie wäre nicht als Mädchen geboren worden. »Mach dir bitte keine Gedanken. Es ist alles in Ordnung, und die Arbeit macht mir wirklich nichts aus.«
»Gut.« Ihre Mutter nahm einen Tonkrug, schöpfte Wasser aus dem Bottich und spülte Annas Haare gründlich aus.
»Ich glaube, die Leute reden schon über uns, und es wäre gut, wenn wir nächsten Sonntag wieder zur Messe gehen. Wegen der Hochzeit waren wir ja auch dort, und du weißt, wie die Leute sind.«
Obwohl Priester Arens sie regelmäßig aufsuchte, um ihnen die Beichte abzunehmen, seit Magda Olde so krank gewesen war, wusste Anna nur zu gut, wie tratschsüchtig einige waren und dass sie beim geringsten Grund mit dem Finger auf andere zeigten. Wer nicht regelmäßig die Kirche aufsuchte, wurde schneller das Ziel von Intrigen, als er Amen sagen konnte, und galt sofort als schlechter Mensch. Weder ihr Vater noch Claas oder sie hielten viel von dieser Pflicht. Vater hatte immer gesagt, dass man Gott in seinem Herzen trage, und wenn man betete und Gott alles erzählte, sei das ebenso gut wie der Gang in die Kirche. Laut sagen durfte man so etwas allerdings nicht. Wegen der Leute und auf Wunsch ihrer Mutter hatten sie die Messe in der Regel besucht.
»Nächsten Sonntag gehen wir wieder. Mach dir also keine Sorgen mehr.«
Nach dem Bad fühlte Anna sich viel frischer und überlegte, ob sie wohl das Sonntagskleid anziehen konnte, auch wenn es dünner war als ihr bestes Wochenkleid. Als sie aber die Eisblumen auf der Scheibe betrachtete, brauchte sie nicht weiter nachzudenken. Kurzerhand nahm sie das Wollkleid und zog es über die Cotte, schlüpfte in den dicken Fellmantel und legte Schal,
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