Rolandsrache
wieder die Augen zu. Erst jetzt merkte sie, wie anstrengend der Tag gewesen war.
»Du gehörst ins Bett«, stellte Claas nicht ohne Sorge fest, und sie musste ihm beipflichten. Seine Brüder genossen schmatzend die Hühnerbeine und machten einen unbekümmerten Eindruck.
Anna sah sich noch einmal um, ob es ihnen an nichts fehlen würde. Neben den Strohlagern lagen Knüppel und Eisenstangen, mit denen sie sich zur Wehr setzen konnten, außerdem hatten sie eine Glocke angebracht, die sie im Notfall läuten konnten. Claas hatte sie vor einigen Tagen beim alten Glöckner ausgeliehen. Die Glocke war so groß, dass sie mit Sicherheit gut im Haus ihrer Mutter zu hören sein würde. Sie hing jetzt an einem der beiden Flaschenzüge, die sonst zum Aufrichten und Transportieren der Steinblöcke dienten. Sie waren die teuersten Gerätschaften in der Werkstatt; allein die Seile hatten ihren Vater damals ein kleines Vermögen gekostet.
»Also gut, dann wünsche ich eine gute Nacht, und wenn etwas ist, läutet nur kräftig.«
»Gute Nacht.« Franziskus zwinkerte ihr zu und erntete prompt einen bösen Blick von Claas. Beschwichtigend hob sein jüngerer Bruder die Hände. »Denk nur nichts Falsches. Anna ist wie eine Schwester für mich«, lenkte er schnell ein.
»Das will ich hoffen.« Claas setzte eine gespielt böse Miene auf. »Und geht auch bald schlafen.« Dann verließ er mit Anna die Werkstatt.
»Ruh dich aus, morgen wird es wieder anstrengend«, sagte Claas, als sie das Haus betraten.
Überzeugt, dass er recht hatte, und ob ihrer Müdigkeit verabschiedete sich Anna von ihm. Claas wünschte ihr ebenfalls eine gute Nacht und verzog sich in die kleine Kammer, in der er schon die letzte Nacht verbracht hatte. Er war ihr gegenüber mehr als zurückhaltend, und sie war erleichtert darüber. Ihrer Mutter war es nicht entgangen, denn sie hatte immer wieder zweifelnd zwischen den beiden hin und her gesehen.
Anna ging in die Schlafkammer, ehe Magda ihr Fragen stellen konnte. Schnell entledigte sie sich ihrer staubigen Sachen und wusch sich den Staub vom Körper. Erst als es zu brennen begann, bemerkte sie die zahlreichen Schnittwunden an Armen und Händen. Einige waren sogar ziemlich tief, und sie wunderte sich, dass sie sie nicht schon bei der Arbeit gespürt hatte. Auch an den Füßen zeigten sich zwei dicke Blasen. Sicher hatte ihre Mutter noch etwas von der gut riechenden Heilsalbe. Mechthild stellte sie her, und Claas und ihr Vater hatten damit immer die Blessuren versorgt, die sie bei der Arbeit davongetragen hatten. Sie würde ihre Mutter morgen darum bitten.
Als sie in dem großen Bett lag, merkte sie erst, wie sehr ihr Körper unter den Anstrengungen gelitten hatte. Ihre Schultern brannten, ihre Arme und Beine waren schwer wie Blei, und das war heute noch lange nicht die härteste Arbeit gewesen, die ihr in der nächsten Zeit bevorstand.
***
Heinrich wusste, dass sich bald eine Gelegenheit für die Verwendung des Bilsenkrauts ergeben würde, als er es mit dem Mörser mahlte. Immer wieder rieb er den steinernen Stößel über die getrockneten Pflanzenteile.
Auf der Straße hallten die Schritte eines Fackelträgers wider, der offenbar auf dem Heimweg war. Heinrich hielt kurz inne und lauschte, ob jemand käme, doch alles blieb still. Als der Fackelträger am Kloster, in dem Heinrich seit seiner Ankunft in Bremen lebte, vorüber war, verschwand auch sein Licht, und die Straße lag wieder im Dunkeln.
Hier in der Kräuterkammer hatte Heinrich eine Kerze aufgestellt, die seinen nächtlichen Arbeitsplatz nur wenig erhellte. Das war ausreichend, denn er hatte diese Art von Arbeit schon öfter verrichtet, sodass er sie beinahe blind tun konnte. Als das Kraut zu einem Pulver geworden war, schüttete er etwas getrocknete Alraune und zwei Tropfen aus einem Fläschchen hinzu und mahlte kräftig weiter. Nachdem die Substanzen gut vermischt waren, füllte er das Mittel in einen kleinen Lederbeutel, den er sorgsam verknotete und unter seiner Kutte an die Kordel band, an der schon vier weitere hingen. Anschließend wickelte er die übrigen Pflanzen wieder in ein Leinentuch und versteckte sie in einem Regal hinter einigen Tongefäßen. Es wäre nicht gut, wenn einer der Heiler sie entdecken würde.
Heinrich reinigte Mörser und Stößel und stellte sie sorgsam wieder an ihren Platz. Er sah sich noch einmal prüfend um, befand, dass alles wieder wie zuvor aussah, und blies die Kerze aus, die er in seiner Kutte verstaute. Er
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