Rolandsrache
Gesicht sehen!«
»Und du kannst doch sehen und tust nur so, als seiest du blind!«, erwiderte Anna lachend.
»Wozu sollte ich sehen wollen? Etwa um mir deine krumme Nase ansehen zu müssen? Nein! So ist es gut. Es bleibt mir vieles erspart.« Beide lachten laut.
»Theresa, ich bin froh, dich wohlauf zu sehen.« Mit diesen Worten nahm Anna die alte Frau in den Arm, die die Geste erwiderte.
»Kind, ich habe dich vermisst. Du bist mir untreu geworden. Hast sicher wegen der Sache mit deinem Vater und der Hochzeit viel zu tun gehabt.«
»Ja«, seufzte Anna. »Viel zu viel.«
Zielsicher fand die Hand der Blinden Annas Kopf und strich behutsam darüber. »Wie viele Maronen willst du mir heute abnehmen?«
»Ich dachte, eine Handvoll wäre gut.«
»Gleich eine ganze Hand? Und zahlen willst du bestimmt nicht halb so viel, wie sie wert sind!«
»Wie üblich.«
Theresa schöpfte mit einem großen Löffel mehr als eine Handvoll der leckeren Früchte aus der Glut, wickelte sie ein und reichte sie Anna.
»Nun«, schnauzte sie. »Gib mir einen Pfennig und dann sieh zu, dass du Land gewinnst!«
Anna bezahlte brav, umarmte die alte Frau noch einmal und verließ dann lachend den Stand. Dieses Spiel spielten sie, seit sie ein kleines Mädchen war, und sie mochte Theresa von Herzen. Sie hatte sich gewünscht, sie zu ihrer Hochzeit einladen zu können, doch niemand wusste, wo die alte Frau lebte, und Anna bezweifelte auch, dass sie gekommen wäre.
Als sie den Gesang eines Barden hörte, bahnte sie sich einen Weg in dessen Richtung. Ein Mann mit einer Laute und rotem Schopf besang König Heinrich von England. Dieser hatte seine zehnjährige Tochter Blanca an den dummen Sohn von Ruprecht verschachert. Die arme Prinzessin ertrug ihr Leid tapfer, denn sie war ebenfalls dumm wie Stroh. Ob sie je die Hochzeitsnacht vollzogen haben, ließe sich schwer sagen, denn beide sollen sich im Palast des Königs verlaufen haben.
Die Menge grölte amüsiert, und Anna verzehrte genüsslich eine Marone, rollte dann die übrigen ein und schob sie in ihre Tasche. Sicher würden Claas, Thea und ihre Mutter sich über ein Mitbringsel dieser Art freuen. Langsam ging sie weiter, und der Geruch nach frischem Brot, Wecken und Hühnersuppe stieg ihr in die Nase. Auch wenn ihr Appetit im Moment gestillt war, lief ihr das Wasser im Munde zusammen. Die guten Gerüche hatten die schlechten von Pisse und Unrat verbannt, und Anna sog den angenehmen Duft ein.
»… und seit ich hierherkomme, isses datt erste Mal, datt der Narbige Georg mich nicht anpumpen wollt. Stattdessen hatter zehn Heißwecken gekauft, und bezahlt hatter sofort.« Eine Bäckerin reichte zwei Laibe Brot an eine rundliche Waschfrau weiter.
»Von mir wollter gestern nicht mal ’nen Kump Suppe, und Arbeit hat er auch nicht gesucht«, schimpfte diese.
»Daschan Ding.« Die Bäckerin machte große Augen.
»Hab ihn gefrägt, ob er denn kein Hunger hat, meinter doch, der Herrgott hätte es gut mit ihm gemeint.«
»Der hat doch dauernd Hunger.«
»Eben. Und der war auch nich so gnaddelig wie sonst.«
»Wolln mal sehen, wie lange das währt. So, brauchst auch noch Mölch?«
Anna grinste in sich hinein und ging weiter. Vom Hafen ertönte eine Schiffsglocke, und da sie die Gegend mit ihrem regen Treiben mochte, beschloss sie, den kurzen Weg durch die Böttcherstraße dorthin zu nehmen. Die anderen Einkäufe konnten noch einen Moment warten.
Tief in der Weser lagen schwer beladene Koggen. Männer mit und ohne Karren schleppten Kisten, Säcke und Bottiche und brachten Waren in große Lagerhäuser oder trugen sie auf die Schiffe.
Anna sah eine Weile zu, wie die Leute ihrer Arbeit nachgingen, und lauschte den Schiffshörnern. Erst als ihre Füße kalt wurden, ging sie zum Markt zurück, um ihre Einkäufe zu erledigen.
Auf dem Weg kam sie beim Apotheker vorbei. Sie wollte sich seine Brille genauer ansehen, um eine Zeichnung für Claas zu machen. Damit könnten sie später zum Schmied gehen und ihn fragen, ob er feinere Kettenglieder an das Gestell anbringen könnte. Zu ihrer Enttäuschung war die Apotheke verschlossen, also erledigte sie rasch ihre Einkäufe und machte sich auf den Weg zur Domtreppe, vor der Claas bereits auf sie wartete.
»Hast du alles?«, fragte er, während er ihr auf den Wagen half.
»Ja.« Annas Blick fiel auf die Ladefläche, wo sich etwas Langes unter Leinentüchern wölbte. Sie konnte sich nicht vorstellen, was da verborgen sein mochte. Er nahm ihren fragenden Blick
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