Rolandsrache
in letzter Zeit. Sie hörte, wie er die Treppe hinaufkam, dann das Klappen seiner Tür. Da ihm offensichtlich nichts mehr an ihr lag, konnte er sie genauso gut freigeben. Einzig die Arbeit an der Statue, mit der sie gut vorankamen, hinderte sie daran, ihn selbst darum zu bitten.
Ach, wäre nur ihr Vater noch da. Traurig grub Anna ihr Gesicht in das Kissen.
9
Einige Leute drehten sich zu ihnen um, als sie am kommenden Sonntag die Kirche betraten. Viele lächelten, manche sahen betroffen aus, und ein paar wenige betrachteten sie misstrauisch. Leider war das normal, wenn man längere Zeit nicht da gewesen war. Anna fühlte sich nicht wohl und war froh, als sie den Gang hinter sich gebracht hatte. Claas, der nur widerwillig mitgekommen war, stellte sich mürrisch dreinblickend neben sie.
»Immer die Gleichen, die sich die Mäuler zerreißen«, flüsterte er, und Anna nickte.
Priester Arens begann seine Predigt mit mahnenden Worten. Gerade in schlimmen Zeiten sei es umso wichtiger, den Glauben nicht zu verlieren und Gott nahe zu sein. Dabei streifte sein Blick Anna und ihre Familie. Anna schluckte bitter und merkte, wie sich ihre Mutter straffte. Heute kam Anna die Predigt verlogener vor als früher, und sie war froh, als es vorbei war.
Nach der Messe wartete Anna, dass auch der Letzte die Kirche verlassen hatte.
»Mein Kind, kann ich noch etwas für dich tun?« Der Priester blieb ein Stück vor ihr stehen.
»Ja, Euer Hochwürden. Ich möchte über meinen Vater sprechen.«
»Schweres Leid ist eine Prüfung von Gott, die wir in Dankbarkeit annehmen sollten und durch die wir im Glauben wachsen werden.«
Anna schluckte eine spitze Bemerkung hinunter. »Könnt Ihr euch vorstellen, wer uns so etwas angetan hat?«
Arens zog die Augenbrauen hoch, holte tief Luft und starrte einen Moment ins Leere. »Nun ja, wir vermögen nicht immer alles zu durchschauen. Die Pfade unseres Herrn liegen oft im Verborgenen. Vielleicht waren es Menschen, die Hunger leiden mussten und hofften, etwas bei euch zu finden. Es sind schwere Zeiten.«
Sie konnte nicht glauben, dass er ernst meinte, was er sagte. »Wir wohnen weit von der Stadt entfernt, und neben unserem Land wohnt ein Bauer, der für Hungernde vermutlich ein besseres Opfer darstellen würde als eine Steinmetzhalle. Außerdem ist es bekannt, dass mein Vater den Armen immer etwas gab.«
»Da stimme ich dir zu, Anna.«
»Wenn die Männer aber meinen Vater und Claas aus einem bestimmten Grund überfallen haben, welcher könnte das sein? Wer zog einen Vorteil aus seinem Tod?«
»Vermutlich hatte niemand einen Grund dafür, denn dein Vater starb an den Folgen des Überfalls. Ich glaube nicht, dass jemand seinen Tod wollte. Auch wenn es für euch ein großes Unglück ist, aber es war vermutlich kein Mord.«
»Falls es nicht der Tod meines Vaters war, den sie wollten, dann war wohl seine Arbeit das Ziel. Warum sonst haben sich die Männer die Mühe gemacht, alles zu zerstören?«
»Du sprichst vermutlich von der Statue, die dein Vater noch erwähnte, bevor er verstarb. Was für eine ist es denn?«
Anna war erleichtert, dass er offenbar nicht wusste, dass es sich um den Roland handelte. Jetzt musste sie allerdings zu einer Lüge greifen. Herr, verzeih mir, aber ich kann im Moment nicht anders.
»Es darf noch niemand erfahren, aber sie zeigt wohl einen der Ratsherren.«
»Vielleicht solltest du dann bei den Widersachern dieses Ratsherren nach den Verbrechern suchen.«
»Gehört nicht auch die Kirche zu eben diesen?«
Arens sah sie äußerst empört an. »Ich bin enttäuscht, dass du so etwas denkst. Nimmst du wirklich an, die Kirche würde zu solch schändlichen Mitteln greifen?«
Nach dem, was sie in letzter Zeit erfahren hatte, glaubte sie das, doch das behielt sie lieber für sich. »Ich versuche doch nur, die Mörder meines Vaters zu finden.«
»Dann bist du hier am falschen Ort, außer du willst Gott um Beistand bitten.« Er stand auf, faltete seine Hände und machte Anstalten zu gehen.
»Bitte entschuldigt, aber ich weiß nicht weiter. Die Büttel tun nichts, und mein Vater fehlt uns.« Anna senkte schuldbewusst den Kopf.
Der Priester wandte sich ihr wieder zu, wobei sein Gesicht jetzt die gewohnte Milde zeigte. »Ich versteh dich, mein Kind. Bitte Gott um Hilfe und lenke deine Gedanken in eine andere Richtung. Hier wirst du keine Schuldigen finden, sondern Trost.« Er nickte ihr zu und verließ die Kapelle.
»Wie ein schlechter Mensch kommt man sich vor«,
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