Rolandsrache
zwar wahr, machte aber keine Anstalten, etwas zu erzählen, und so verkniff sie sich eine neugierige Frage.
»Bist du noch immer fest entschlossen, zur Zunft zu fahren?« Claas sah sie fragend an, und als Anna nickte, fuhr er los. »Ich muss neue Beizeisen machen lassen. In der Zeit kannst du tun, was du für richtig hältst.«
Am anderen Ende der Stadt, nahe dem Ansgaritor, stand das große Zunfthaus der Steinmetze und Bildhauer. Schon von draußen vernahm Anna das regelmäßige Klopfen der Werkzeuge. Der Innenhof, den das alte Gebäude umrahmte, bot den Handwerkern viel Platz zum Bearbeiten ihrer großen Steine. Die Luft im Inneren war staubgeschwängert, es roch nach warmem Stein, und immer wieder flogen kleine Splitter durch die Luft. Da es schon böse Unfälle gegeben hatte, standen zum Schutz leinenbespannte Holzgestelle zwischen den Handwerkern, die die Geschosse abfingen.
Die meisten Steinmetze und Bildhauer kannte Anna seit ihrer Kindheit. Sie erkundigten sich, wie es Anna und ihrer Mutter ging, und die, die nicht bei ihrer Hochzeitsfeier gewesen waren, beglückwünschten sie zur Vermählung. Mit einem Kloß im Hals bedankte sich Anna, während man Claas auf die Schulter klopfte. An seinem Gesichtsausdruck sah Anna, dass es ihm nicht angenehm war, doch er bedankte sich bei den Männern. Als sich einer nach dem anderen wieder seiner Arbeit zuwandte, ging auch er ins Zunfthaus und ließ Anna im Hof zurück.
Sie beobachtete, mit welcher Leichtigkeit und Kraft die Männer den Klöppel auf die Steine sausen ließen. Jeder Schlag war begleitet von einem lauten Klackern, das mit der Zeit in den Ohren schmerzte, doch sie ignorierte es. Sie überlegte, mit wem sie am besten ein Gespräch beginnen konnte, und ihre Wahl fiel auf Berthold, den schüchternen Gesellen von Friedrichs, der in einer Ecke mit vorgeschobener Zunge an einer Schrifttafel arbeitete. Neben ihm lag ein Pergament, von dem er die Letter abschaute, die er mit seinem Werkzeug auf die Steinplatte übertrug. Interessiert besah Anna sich die ersten Buchstaben, welche Berthold fein aus dem Stein herausgehauen hatte.
Du sollst keine anderen G… Weiter war er noch nicht.
»Grüß dich, Berthold. An was arbeitest du?«
»Tach. Wird ’ne Tafel fürn St. Petri.«
»Man sieht sofort, dass du dein Handwerk verstehst. Kommen alle zehn Gebote darauf?«
»Weiß nicht, kann ja nicht lesen.« Verlegen blickte der junge Mann nach unten und schob mit dem Fuß kleine Steine zusammen.
»Das muss dir nicht unangenehm sein. Die meisten können nicht lesen.«
Berthold sagte nichts, sondern starrte weiterhin auf den Boden.
»Wie geht es Meister Friedrichs und seiner Frau?«
»Dem Meister geht’s gut, seinem Weib nicht so.«
»Oh ja, ich hörte von ihrer Krankheit. Kräuter-Mechthild kümmert sich bestimmt gut um sie, oder?«
»Glaub schon, der Meister holt bei ihr Medizin.«
»Wird er nun eigentlich der neue Zunftmeister?«
»Weiß nicht.« Berthold nahm ein anderes Werkzeug zur Hand und schien es eingehend zu prüfen. »Schade, dass Meister Olde nicht mehr da ist.«
»Ja.« Anna seufzte laut. »Kannst du dir denn vorstellen, wer meinen Vater und Claas überfallen haben könnte?«
»Nein. Weiß nicht, wer so was Böses tun würde. Muss jetzt gehen, sonst bekomm ich Ärger.« Damit nickte er ihr zu und eilte ins Zunfthaus.
Anna blieb verblüfft zurück. Sie hatte ihn anders kennengelernt, schüchtern zwar, aber nicht derartig verstockt.
Zwei weitere Männer hatten sie offenbar beobachtet und verließen jetzt auf einem Karren, der mit einer verhüllten Figur beladen war, den Innenhof. Vermutlich hatte Claas recht, und sie machte sich hier zum Narren.
Außer ihr war nur noch der alte Fries auf dem Hof. Er stand am Brunnen und schöpfte mit einer Kelle Wasser aus einem davorstehenden Eimer. Als er jetzt Annas Blick auffing, lächelte er.
»Magst auch etwas kaltes Wasser?«
»Nein, ich bin nicht durstig.«
Er humpelte zu einer Holzbank und fuhr mehrmals mit einem Putzlumpen darüber, um Staub, Steinsplitter und Schneereste zu entfernen. »Komm zum alten Fries, Dern.« Er lächelte verschmitzt. »Ach, ’schuldige, bist ja jetzt Frau Claas Zellheyer.«
Anna lachte und nahm auf der Bank Platz. »Nenn mich ruhig weiter Dern, was anderes würde mir von dir fremd vorkommen.«
»Wirst immer meine lütte Dern bleib. Aber sach mal, was deine Mutter macht, hoffe, geht ihr ’n büschn besser?«
»Seit unsere Thea wieder da ist, lebt Mutter wieder richtig
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