Rolandsrache
»Komm, wir sind gerade beim Essen. Steht dir der Appetit nach einer deftigen Mahlzeit?«
»Da sag ich nicht Nein, und anschließend musst du mir noch verraten, wann es euch in die miefige Stadt getrieben hat.«
»Mache ich, aber nur, wenn du das mit dem hochamtlich erklärst.«
Als die Männer wieder an ihre Arbeit gegangen waren und das Geschirr gespült war, saßen die Frauen mit ihren Näh- und Flickarbeiten in der warmen Stube. Sie tranken heißen Apfelsaft mit Honig, und Anna berichtete Mechthild, weswegen sie umgezogen waren. Wachsam hörte die Kräuterfrau zu.
»Ich vermag mir nicht vorzustellen, was geschehen wäre, wenn sie dich gefasst hätten, liebe Anna.«
Magda Olde atmete bei diesen Worten laut aus. »Ich lege mich etwas hin. Komm uns bald wieder besuchen, Mechthild«, sagte sie und verließ den Raum.
»Es nimmt sie mit.«
»Umso erleichterter bin ich, dass dieser Georg dir auf jeden Fall nicht mehr zu Leibe rücken kann.«
Die Kräuterfrau sprach in Rätseln. »Was meinst du damit?«
»Ich sagte ja, ich war heute hochamtlich in der Stadt unterwegs.« Sie machte eine bedeutsame Pause. »Die Büttel sprachen am Morgen bei meinem Bruder vor, damit ich sie zu einem grausigen Fund begleite. Man hatte einen Toten aus der Weser gefischt, und ich sollte ihn mir ansehen.«
»Ach herrje. Macht so was nicht der Medicus?«, hakte Anna ein, und eine leise Vorahnung beschlich sie, dass der Tote etwas mit ihrer Geschichte zu tun hatte.
»Doch, normalerweise schon, aber der war nicht aufzutreiben, ebenso wenig der Bader. Also holten sie mich. Und was glaubst du, wer der Tote war?«
»Doch nicht etwa der Narbige Georg?«
»Genau der.« Mechthild nickte bekräftigend.
»Kanntest du ihn?«
»Nein, den habe ich zuvor nie gesehen, aber die Büttel wussten, wer es ist. Ich sollte ihn mir ansehen, um herauszufinden, woran er gestorben ist.«
»Hast du ihn dir angesehen?« Jetzt war Anna noch neugieriger.
»Ja, und er sah furchtbar aus. Allerdings habe ich erst einmal gesagt, er sei ertrunken, obwohl ich glaube, dass da noch etwas anderes im Spiel ist.«
»Was meinst du damit?« Anna stach sich mit der Nadel, die sie sorgsam durch die Arbeitskluft von Claas trieb, in den Finger. »Aua!«
»Sei vorsichtiger. Den Narbigen hat bestimmt ein Gift getötet.«
»Dann hat ihn jemand ermordet!«
»Vielleicht.«
Nicht die besten Nachrichten, dachte Anna. Immerhin hatten sie versucht, Georg zu stellen. Nun würde er ihnen nichts mehr verraten können. »Wer mag es wohl getan haben – jemand, der keinen Zeugen gebrauchen kann?«, überlegte sie laut.
»Oder andere zwielichtige Gestalten, mit denen er verkehrte«, ergänzte Mechthild mit einem Blick aus dem Fenster. »Doch es wird spät, und ich muss ans andere Ende der Stadt.«
»Ja, du solltest aber nicht allein gehen.« Zu frisch war die Erinnerung, wie viel Angst Anna selbst in der Stadt ausgestanden hatte.
Bertram bot der Kräuterfrau an, sie nach Hause zu bringen, was sie dankbar annahm. Klaus schien sich darüber sehr zu amüsieren, denn als die beiden fort waren, machte er über Bertrams Eifer allerlei anzügliche Bemerkungen, worüber die übrigen Männer lachten. Anna jedoch stand der Sinn nicht danach, denn der tote Georg ging ihr nicht aus dem Kopf. Claas wusste noch nichts davon. Sie musste es ihm unbedingt mitteilen.
Später beim Essen schlich sich Claas wieder vorzeitig davon. Anna ging in den Innenhof und sah ihren Verdacht bestätigt. Wieder arbeitete er an der Figur, während die anderen drinnen ihre Suppe löffelten. Wütend stemmte sie die Hände in die Hüften, was er allerdings bemerkte und sie spitzbübisch anlächelte. Anna musste sofort an die Nacht vor dem Kamin denken. Gleich darauf spürte sie, wie ihre Wangen heiß wurden. Sie gab sich ärgerlich und versuchte so, ihre Unsicherheit zu überspielen.
»Ich hatte gehofft, dass du etwas weniger arbeiten wirst, und schon erwische ich dich beim Gegenteil.«
»Du scheinst auch nicht untätig gewesen zu sein, wenn ich mir dein erhitztes Gesicht ansehe.« Seine Augen grinsten frech.
»Das … ist etwas anderes«, stammelte sie schnell und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Du hast es versprochen.« Sie versuchte, ihn finster anzusehen.
»Erbarmung.« Abwehrend hob er die Hände. »Ich werde mich bemühen.« Damit stand er auf und strich ihr zärtlich über den Arm.
Seine Unschuldsmiene entlockte ihr ein Lächeln. »Ich nehme dich beim Wort.« Dann wurde sie ernst und
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