Rolf Torring 082 - Die Tempel-Tänzerin
wieder über den Weg legen konnten.
Natürlich übertraf Pongo ihn an Kraft, Geschmeidigkeit und Erfahrung im Urwaldleben bei weitem, aber es war immerhin erstaunlich, mit welcher Umsicht und mit welcher Geschicklichkeit sich der Matrose im Urwald bewegte, obwohl das Meer doch seine eigentliche Heimat war.
Wie er angegeben hatte, gelangten wir nach einem halben Kilometer auf eine Lichtung, die von dunklem Wald umstanden war. Die freie Fläche war mit Felsblöcken verschiedener Größe bedeckt. Zwischen ihnen führte uns Gruber entlang, bis wir vor einer Schlucht standen, deren Ränder und Wände aus zerrissenem Gestein gebildet waren. Eine Naturkatastrophe mußte die Schlucht vor Urzeiten geschaffen haben. Ich wunderte mich, woher Kapitän Farrow die Gegend hier so gut kannte. Auch Rolf machte ein verwundertes Gesicht, als Gruber uns eine Strecke am Rande der Schlucht entlangführte, dann um einen großen Felsblock, der den Weg zu versperren schien, herumbog und einen steilen Pfad abstieg, der am Rande der Schluchtwand hinabführte.
Als wir den Grund der etwa zwanzig Meter tiefen Schlucht erreicht hatten, wandte sich Rolf an Gruber und fragte:
»Woher kennen Sie die Schlucht, Herr Gruber? Waren Sie schon früher einmal hier?'
»Nein, Herr Torring,“ antwortete der Hüne. »Zum ersten Male. Ein guter Bekannter, Fürst Ghasna, hat uns hierhergebeten. Wir wollten uns mit ihm eigentlich in Kalkutta treffen, da liegt auch unser Boot jetzt. Aber statt des Fürsten kam ein Bote, der uns hierher bat Der Fürst muß sich, das wird Ihnen das Verständnis der Zusammenhänge erleichtern, auch vor den Engländern verstecken, da er, ein angeblicher Empörer, als Feind gilt. Das ist aber eine Verleumdung, die sein Vetter aufgebracht hat, der jetzt an Stelle des Fürsten den kleinen Staat unter britischer Aufsicht regiert. Wir haben den Fürsten auf einer Insel in der Flores-See kennen gelernt, haben viele Abenteuer mit ihm erlebt und sind sofort hierher gereist, um ihm zu helfen. Wir haben vergeblich auf ihn gewartet Und nun sind Kapitän Farrow, sein Sohn und Doktor Bertram verschwunden."
Herr Gruber wurde mir durch seine Erzählung immer sympathischer. Er und seine Kameraden mußten ein herrliches Leben voller Abenteuer führen, die den unsrigen glichen. Darin sollte ich mich auch nicht getäuscht haben.
Gruber führte uns quer über den Grund der Schlucht der auch mit Felsblöcken, von denen manche die Größe eines Einfamilienhauses hatten, übersät war. Dabei erlebten wir eine neue Überraschung.
Die nördliche Wand der Schlucht war von Menschenhand kunstvoll bearbeitet. In wundervoller Arbeit waren aus dem harten Stein Bildwerke, Flach-und Halbreliefs, herausgearbeitet, die Buddha in den verschiedensten Ausdrucksformen zeigten. In der öden Schlucht hätten wir solche Kunstwerke nie vermutet.
Gruber warf einen Blick auf die überlebensgroßen Götterfiguren, brummte etwas von „Heidenzeug" und deutete auf eine tiefe, breite Nische, die in den Felsen hineingehauen war. Ihr Boden war völlig glatt wie ein Tisch. Die Breite der Nische mochte drei Meter, die Tiefe zwei Meter betragen. In vier Meter Höhe war die Decke halbbogenförmig geschwungen.
Hier hatte wohl vor Zeiten eine Figur gestanden. Wenn die glatt bearbeitete Felswand nicht den Abschluß einer Nische gebildet hätte, würde man vermutet haben, daß die Nische den Rahmen eines Tores darstellte.
„Da ist sie erschienen," sagte Gruber leise. „Wenn mich der Kapitän nicht ausgelacht hätte, wäre er sicher nicht verschwunden."
„Wer ist denn erschienen, Herr Gruber?" fragte Rolf.
„Eine Frau," sagte der Hüne scheu, „ganz in weiße Schleier gehüllt. Sie machte sehr eigenartige Bewegungen."
Wenn Gruber richtig gesehen hatte, war ihm wohl eine indische Tempeltänzerin erschienen. Sollte der ruhige, besonnene Mann einer Täuschung, einer Einbildung, einem „Gesicht" zum Opfer gefallen sein?
„Ich vermute, daß Sie eine Tempeltänzerin gesehen haben, Herr Gruber," sagte Rolf. „Wann war das denn?"
„Gestern nacht, Herr Torring. Ich hatte nach Jörn gerade die zweite Wache. Die Nacht war klar und mondhell. Die Nische wurde zur Hälfte beschienen. Die hintere Wand konnte ich also nicht sehen. Vorn lag der Mondschein bis zur Hälfte auf dem glatten Boden. In diesem Lichte erschien die Tänzerin und verschwand nach einer Weile wieder. Die Erscheinung
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