Rolf Torring 111 - Der Todesweg
gefüttert hatte. Das Tier beachtete uns gar nicht. Ob er aber auch so ruhig bleiben würde, wenn von der anderen Seite die übrigen Tiger in den Käfig gestürmt kamen, war fraglich. Da hatte ich einen Einfall, den ich Rolf sofort mitteilte. Mein Freund lachte, dann rief er den Tiger zu sich und betrat mit ihm die Kammer, deren Tür er fest verschloß.
Jetzt konnte ich meinen Plan ausführen. Ich ließ die nach dem abgeteilten Vorhof führenden Schiebetüren des Käfigs hinunter und öffnete die Türen auf der anderen Seite. Dann stieß ich einen Pfiff aus. Die Tiger im Vorhof — es mochte ein Dutzend sein — stutzten und blickten zu mir herüber. Ich begann, mit den Armen in der Luft herumzufuchteln, und ahmte Bewegungen von Windmühlenflügeln nach.
Da kamen die Tiger langsam näher, bestiegen den Käfig und warfen sich fauchend gegen das Gitter auf meiner Seite, ohne mich jedoch erreichen zu können. Als sie alle im Käfig waren, ließ ich das Seil los; die Schiebetür sauste nach unten, der Käfig war geschlossen.
Zu beiden Seiten des Käfigs waren schwere Vorhänge angebracht, die ich — ebenfalls an Seilen — herabließ." Sobald die Tiger im Dunkeln waren, beruhigten sie sich schnell. Ich suchte Rolf, den ich noch in der Kammer fand.
Er saß auf einem Schemel. Vor ihm lag der große Königstiger. Rolf hatte sich so nahe an den Tisch gesetzt, daß er von den dort liegenden Fleischklumpen mit dem Messer, das wir dem Malaien abgenommen hatten, kleine Stücke abschneiden konnte. Mit den Fleischstücken fütterte er die Raubkatze, die fromm wie ein treuer Hund war. Ich sah mir das Bild längere Zeit an.
Schließlich erhob sich Rolf und bedeutete dem Königstiger, sich zu trollen und die Kammer durch die Tür in den Hof zu verlassen. Willig gehorchte das zahme Tier. Es kümmerte sich um die anderen Tiger im Käfig, die es durch die Vorhänge nicht sehen konnte, gar nicht, sondern streckte im Hof behaglich die Glieder aus, als wollte es sein Fell gründlich durchsonnen lassen.
„Jetzt können wir über den Vorhof ungefährdet in den Wald gelangen, Rolf. Ich glaube kaum, daß wir lange wandern müssen, um Pongo zu finden."
„Vielleicht vernehmen wir vorher noch die beiden Malaien, Hans. Sie können uns möglicherweise ein paar Winke geben, die uns von Nutzen sind. Wenn wir ihnen etwas Angst einjagen, werden sie sicherlich reden."
Wir eilten die Treppe empor und fanden die beiden Malaien noch in der alten Lage, obwohl sie anscheinend den Versuch gemacht hatten sich zu befreien, was durchaus verständlich war Rolf ging den Gang ein Stück weiter vor und schaute über die Brüstung ins Tempelinnere hinab Da unten unterhielten sich Balling und unser Kapitän eifrig. Sie schienen unser langes Fortbleiben natürlich zu finden.
„Noch einige Minuten Geduld, meine Herren!" rief Rolf hinunter "Wir sind gleich bei Ihnen. Hier ist alles gut gegangen Die Wächter haben wir hier oben gefesselt und geknebelt."
„Bravo, Herr Torring!" rief Balling empor. „Kann ich Ihnen helfen?"
„Nicht nötig" wehrte Rolf ab. „Wenn wir die Gefangenen verhört haben, können wir den Tempel verlassen."
Rolf kam zu mir zurück. Wenn wir geahnt hätten, was Balling in der kurzen Zeit tat, die wir noch mit den Malaien sprachen, wir wären nicht beide oben geblieben, sondern hätten versucht. Balling an der Ausführung seines Vorhabens zu hindern.
Als wir neben den Malaien standen, befreiten wir sie von den Knebeln und versuchten sie auszufragen. Zuerst wollte keiner von beiden antworten. Da bedeuteten wir ihnen, daß wir nicht mit uns spaßen ließen und sie ohne weiteres töten würden, wenn sie keine Antwort zu geben bereit wären. Sie baten um ihr Leben und versprachen, alles, was sie wüßten, zu sagen, betonten aber gleich, daß es nicht viel sei.
„Wie lange seid ihr schon hier?" war Rolfs erste Frage.
Prompt kam die Antwort:
„Seit sechs Monaten, Herr. Wir werden bald abgelöst, denn das halbe Jahr, das wir hier verbringen müssen, ist fast vorbei."
„Was habt ihr hier zu tun?" lautete die zweite Frage Rolfs.
„Wir müssen den Tempel bewachen und die Tiger füttern."
„Was tut ihr mit Menschen, die sich hierher verirren?" wollte Rolf weiter wissen.
„Wir verjagen sie oder nehmen sie gefangen."
„Wer erteilt euch die Befehle?"
Die Malaien zögerten etwas mit der Antwort, dann
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