Rom: Band 1
hingeworfenen Wesen untergingen, verschwanden.
»Meiner Treu, ich bin nicht Ihrer Meinung,« sagte Pierre mutig. »Ich habe eben begriffen, daß in der Kunst das Leben alles ist und daß die Unsterblichkeit wirklich nur den Schöpfern gehört. Der Fall Michel Angelo scheint mir entscheidend zu sein; denn nur dank diesem außerordentlichen Erzeugen von lebendigem, prächtigem Fleisch, das Ihre Weichlichkeit verwundet, ist er der übermenschliche Meister, das Ungetüm, das alle anderen niederdrückt. Mögen nur die Neugierigen, die schönen Geister, die geistreichen Scharfsinnigen über dem Zweideutigen und Unsichtbaren tüfteln, mögen sie den Reiz der Kunst in die Auswahl gesuchter Behandlung und das Halbdunkel des Symbols legen – Michel Angelo bleibt doch der Allmächtige, der Schöpfer von Menschen, der Meister der helle, Einfachheit und Gesundheit, er bleibt ewig wie das Leben selbst.«
Nun lächelte Narcisse bloß mit einer nachsichtig und höflich geringschätzenden Miene. Freilich, nicht ein jeder saß stundenlang in der Sixtinischen Kapelle vor einem Botticelli, ohne je den Kopf zu heben, um die Michel Angelos anzusehen. Er schnitt das Gespräch kurz ab, indem er sagte:
»Es ist jetzt elf Uhr. Mein Vetter wollte mich hier benachrichtigen lassen, sobald er uns empfangen könnte, und es wundert mich, daß ich noch niemand gesehen habe ... Wollen Sie, daß wir jetzt in die Stanzen Raffaels gehen?«
Und oben, in den Stanzen, urteilte er wieder ganz vollendet, sehr klar und sehr gerecht über die Werke. Seine ganze unbefangene Einsicht kehrte wieder, sobald er nicht mehr von seinem Haß gegen gewaltige Arbeiten und geniale Dekorationen bewegt wurde.
Aber unglücklicherweise kam Pierre aus der Sixtinischen Kapelle und mußte sich erst der Umarmung des Ungetüms entwinden, mußte erst das eben Gesehene vergessen und sich an das, was er hier sah, gewöhnen, ehe er dessen ganze reine Schönheit genießen konnte. Es war, als hatte er zuerst einen zu starken Wein getrunken, der ihn betäubte und hinderte, nun diesen leichten Wein von zarter Blume zu genießen. Hier trifft die Bewunderung nicht wie ein Blitzstrahl, sondern der Zauber wirkt mit langsamer, unwiderstehlicher Gewalt, Es ist wie Racine an der Seite Corneilles, Lamartine an der Seite Hugos – das ewige Paar, Weibchen und Männchen, in den Jahrhunderten des Ruhmes. Bei Raffael triumphirt der Adel, die Anmut, die vollendete, tadellose, göttlich harmonische Linie; es ist nicht bloß das körperliche Symbol, wie es Michel Angelo so herrlich hingeworfen, sondern eine in die Malerei übertragene psychologische Analyse von tiefem Scharfsinn. Bei Raffael ist der Mensch reiner, idealisirter, wird er mehr aus dem Innern gesehen; und wenn auch darin etwas Empfindsames, etwas Weibliches liegt, dessen zärtlichen Schauer man empfindet, so herrscht doch darin eine bewunderungswürdige, gründliche, sehr große und sehr starke Technik. Pierre gab sich nach und nach dieser höchsten Meisterschaft hin; diese kräftige, elegante, junge Mannesschönheit eroberte, dieses Erschauen höchster Schönheit in höchster Vollendung rührte ihn bis ins tiefste Herz, Aber wenn die vor den Malereien in der Sixtinischen Kapelle entstandenen Gemälde »Der Streit über das Altarsakrament« und »Die Schule von Athen« ihm als die Meisterwerke Raffaels erschienen, so fühlte er hingegen, daß der Künstler in dem »Brand des Borgo« und noch mehr in der »Vertreibung Heliodors aus dem Tempel« und in »Attila, vor den Thoren Roms aufgehalten« die Blüte der göttlichen Anmut verloren hatte, weil die niederdrückende Große Michel Angelos auf ihn wirkte. Welche Zerschmetterung, als diese Sixtinische Kapelle geöffnet ward und die Nebenbuhler eintraten! Das Ungeheuer hatte unten gezeugt, und der größte unter den Humanisten ließ hier seine Seele, ohne daß er sich je mehr von dem erlittenen Einfluß freimachen konnte.
Dann führte Narcisse Pierre in die Loggien, in diese so helle, so köstlich geschmückte Glasgalerie. Aber Raffael war tot; die Kartons, die er hinterlassen, waren nur Schülerarbeiten. Es war ein plötzlicher, vollständiger Verfall. Nie hatte Pierre besser eingesehen, daß das Genie alles ist, daß mit seinem Verschwinden die Schule zusammenbricht. Der geniale Mensch faßt die Epoche zusammen und verleiht einer Stunde der Zivilisation das ganze Mark des sozialen Bodens, der dann manchmal jahrhundertelang erschöpft ist. Die wunderbare Aussicht, die man von den
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