Rom: Band 1
die Sänger bestimmte Loggia mit dem Marmorbalkon. Aber man muß erst den Kopf heben, die Blicke müssen erst zu der ungeheuren, das jüngste Gericht darstellenden Freske, die die gesamte Hinterwand einnimmt, zu den Malereien des Gewölbes aufsteigen, die sich bis zu dem Karnies zwischen den zwölf hellen Fenstern – sechs auf jeder Seite – hinziehen, damit plötzlich alles erweitert erscheint, damit sich plötzlich alles aus einander schiebt und ins Unendliche aufschwingt.
Glücklicherweise waren nur drei oder vier Touristen da, die wenig Lärm machten. Pierre bemerkte sofort Narcisse Habert, der sich auf einer der Kardinalsbänke über der Stufe befand, wo die Schleppträger sitzen. Der junge Mann saß unbeweglich mit etwas zurückgebeugtem Kopf da und schien in Verzückung zu sein. Aber er betrachtete nicht das Werk Michel Angelos. Seine Augen wichen nicht von einer der vorderen Fresken unter dem Karnies, und als er den Priester erkannt hatte, murmelte er bloß mit verschwommenem Blick:
»O, lieber Freund, betrachten Sie doch den Botticelli!«
Dann versank er wieder in seine Verzückung.
Pierre war eben ganz und gar von dem übermenschlichen Genie des Michel Angelo gepackt worden; er empfand etwas wie einen heftigen Schlag mitten ins Gehirn, mitten ins Herz. Alles übrige verschwand. Da oben befand sich wie auf einem unbegrenzten Himmel nichts als diese außerordentliche Kunstschöpfung. Zuerst verblüffte ihn das Unerwartete, daß der Maler der einzige Urheber des Werkes hatte sein wollen; er hatte weder Marmor- noch Bronzearbeiter noch Vergolder noch sonst einen Handwerker geduldet. Der Pinsel des Malers hatte für die Pilaster, die Säulen, die marmornen Karniese, die Statuen und Ornamente aus Bronze, die goldenen Blumen und Rosetten, für diese ganze, unerhört reiche Ausschmückung genügt, die die Fresken umrahmte Er stellte ihn sich an dem Tage vor, da man ihm das nackte Gewölbe übergeben hatte – nichts als Mörtel, nichts als flache, weiße Mauern, Hunderte von Metern, die bedeckt werden mußten. Und er sah ihn, wie er vor diesem ungeheuren Blatte stand, keine Hilfe wollte, die Neugierigen davonjagte und sich ganz allein, eifersüchtig, ungestüm mit seiner Riesenarbeit einschloß. Vier und ein halbes Jahr hatte er in dieser grimmigen Einsamkeit mit diesem täglichen Gebären eines Kolosses zugebracht. Ach, dieses ungeheure Werk, geschaffen, ein Leben auszufüllen, dieses Werk, das er im ruhigen Vertrauen auf seine Willenskraft und seine Stärke begonnen haben mußte – es war eine ganze Welt, die er in einem fortwährenden Drang der schöpferischen Manneskraft, in der vollen Entfaltung der Allmacht aus seinem Gehirn gezogen und da hingeworfen hatte.
Ein Schauer überlief Pierre, als er dann an eine nähere Prüfung dieser von einem Seherauge vergrößerten Menschheit ging. Sie quoll über von einer maßlosen Synthese, von einem cyklopischen Symbolismus, und gleich einer natürlichen Blüte leuchtete jegliche Schönheit: königliche Anmut und königlicher Adel, erhabener Friede und erhabene Gewalt. Dabei war alles von vollkommener Sachkenntnis; die gewaltsamsten Verkürzungen waren in der Gewißheit des Gelingens gewagt worden und fortwährend siegte die Technik über die Schwierigkeiten, die die gewölbten Flachen darboten. Vor allem herrschte eine unglaubliche Naivität in der Anwendung der Mittel; der Stoff war fast auf nichts beschränkt, nur einige Farben waren reichlich, ohne jegliches Streben nach Kunstgriffen oder Prunk verwendet worden. Und das genügte; das Blut brauste stürmisch, die Muskeln unter der Haut spannten sich, die Figuren wurden lebendig und traten mit, so energischem Schwung aus dem Rahmen hervor, daß dort oben eine Flamme hinzustreichen schien, die diesem Menschenvolke ein übermenschliches, unsterbliches Leben verlieh. Ja, das war das Leben, das strahlende, sieghafte Leben – ein ungeheures, wucherndes Leben, ein Lebenswunder, das eine einzige Hand verwirklichte: aber sie besaß die höchste Gabe, die Einfachheit in der Kraft.
Man hat darin eine ganze Philosophie gesehen; man hat darin das ganze Menschenschicksal, die Erschaffung der Welt, des Mannes und des Weibes, den Sündenfall, die Strafe und endlich das Gericht Gottes am letzten Tage der Welt finden wollen – aber dabei konnte sich Pierre bei dem ersten Anblick, bei der staunenden Verblüffung, in die ein solches Werk ihn versetzte, nicht aushalten. Allein was für eine Verherrlichung des menschlichen
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