Rom: Band 1
wieder ihr gehören würde.
Der zweite Teil des Buches schloß mit der Schilderung des geistigen und moralischen Unbehagens, gegen welches das Jahrhundertende kämpft. Die Masse der Arbeiter leidet, weil sie schlecht bedacht wurde, und fordert, daß man ihr bei einer neuen Teilung wenigstens das tägliche Brot sichere; aber es scheint, daß auch die bevorzugte Klasse nicht viel befriedigter ist. Sie beklagt sich über die Leere, die ihre befreite Vernunft, ihr erweiterter Geist in ihr zurücklassen. Das ist der Bankerott des Rationalismus, des Positivismus und der Wissenschaft selbst. Die vom Bedürfnis nach dem Absoluten verzehrten Geister haben das Herumtasten, die Langsamkeit dieser Wissenschaft satt, die einzig nur die bewiesenen Wahrheiten zuläßt. Die Angst vor dem Geheimnisvollen erfaßt sie wieder; sie brauchen eine vollständige, unmittelbare Synthese, um in Frieden einschlafen zu können. Und gebrochen, rasend gemacht von dem Gedanken, daß sie nie alles wissen werden, fallen sie unterwegs wieder auf die Kniee; Gott, das enthüllte, mit einer Glaubensformel bestätigte Unbekannte, ist ihnen lieber. In der That, bis heute befriedigt die Wissenschaft weder unsern Durst nach Gerechtigkeit, noch unser Verlangen nach Sicherheit, noch unsere uralte Vorstellung vom Glück, die im Fortleben, in ewigen Genüssen besteht. Sie läßt die Welt nur buchstabiren, sie bringt einem jeden nur die strenge, solidarische Verpflichtung, zu leben, ein einfacher Faktor der universellen Arbeit zu sein. Wie begreiflich ist da die Auflehnung der Herzen, die Sehnsucht nach diesem christlichen Himmel mit seinen schönen Engeln, voll Licht, Musik und Duft! Ach, wenn man seine Toten küssen, und sich sagen kann, daß man sie wieder finden, daß man mit ihnen ein neues Leben glorreicher Unsterblichkeit führen wird! Wenn man diese Gewißheit von einer höchsten Gerechtigkeit haben kann, die einem die Abscheulichkeiten der irdischen Existenz ertragen hilft! Wenn man dadurch die schrecklichen Gedanken an das Nichts töten, der grauenhaften Vorstellung vom Verschwinden des Ich entgehen und schließlich in dem unerschütterlichen Glauben Ruhe finden kann, der die glückliche Lösung aller Probleme des Schicksals auf den Morgen nach dem Tode verschiebt! Diesen Traum werden die Völker noch lange träumen. Das erklärt auch, warum am Ende dieses Jahrhunderts, infolge der Ueberreiztheit der Geister, auch infolge der tiefen Unruhe, in der sich die mit einer neuen Welt schwanger gehende Menschheit befindet, das religiöse Gefühl wieder erwacht ist. Es ist unruhig, es bangt nach dem Idealen und Unendlichen, es fordert ein Moralgesetz und die Gewißheit einer höheren Gerechtigkeit. Die Religionen können verschwinden; das religiöse Gefühl wird neue schaffen, sogar mit Hilfe der Wissenschaft. Eine neue Religion! Eine neue Religion! Und war es nicht der alte Katholizismus, der da im Begriffe stand, auf dieser jetzigen Welt, wo alles dieses Wunder begünstigen zu müssen schien, von neuem zu keimen, junges Grün auszuschlagen und sich mit einer ganz frischen und ungeheuren Blüte zu schmücken?
Zuletzt, im dritten Teile des Buches, schilderte Pierre mit den flammenden Worten eines Apostels, wie die Zukunft, dieser verjüngte Katholizismus, aussehen werde, der den gepeinigten Nationen Gesundheit und Frieden, das vergessene goldene Zeitalter des ursprünglichen Christentums wieder bringen würde. Er begann mit einer gerührten, verherrlichenden Schilderung Leos XIII., des idealen Papstes, des Auserwählten, dem die Rettung der Völker übertragen worden war. Als solchen beschwor er ihn herauf, einen solchen erblickte er in ihm, in dem brennenden Wunsche nach dem Erscheinen eines Hirten, der dem Elend ein Ende machen würde. Das Bild besaß keine getreue Porträtähnlichkeit; aber es war der notwendige Erlöser, mit der unerschöpflichen Barmherzigkeit, dem weiten Herzen und Geiste, wie er ihn sich träumte. Dennoch hatte er die Dokumente durchstöbert, die Encykliken studirt und die Gestalt auf Thatsachen gebaut: auf die religiöse Erziehung in Rom, die kurze Nuntiatur in Brüssel, das lange Episkopat in Perugia. Kaum ist Leo XIII. Papst geworden, so enthüllt sich seine Doppelnatur; er ist der unerschütterliche Hüter des Dogma und zugleich der geschmeidige Politiker, der die Nachgiebigkeit so weit treiben will, als es möglich ist. Er bricht rund heraus mit der modernen Philosophie; er geht über die Renaissance hinweg ins Mittelalter zurück;
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