Rom: Band 1
und Großen dieser Welt verabschieden, die von ihren Thronen verjagten Könige im Exil lassen und sich gleich Jesus mit den brotlosen Arbeitern und den Straßenbettlern aussöhnen. Ja, vielleicht noch ein paar Jahre furchtbaren Elends, beunruhigender Verwirrung, schrecklicher, sozialer Gefahren – und dann wird das Volk, der große Stumme, über den bisher nach Belieben verfügt wurde, den Mund aufthun und zur Wiege, zur geeinigten Kirche Roms zurückkehren, um die drohende Zerstörung der menschlichen Gesellschaft zu vermeiden.
Pierre schloß sein Buch mit einer leidenschaftlichen Heraufbeschwörung des neuen Rom, des geistigen Rom, das bald über die versöhnten, in einem neuen, goldenen Zeitalter verbrüderten Völker herrschen würde. Er sah darin sogar das Ende des Aberglaubens. Ohne das Dogma im geringsten anzugreifen, vergaß er sich in seiner Schwärmerei so weit, daß er von einem erweiterten, von allen Riten befreiten und einzig in der Befriedigung der Nächstenliebe ausgehenden religiösen Gefühl träumte. Und da die Wunden, die Lourdes ihm geschlagen, noch nicht verheilt waren, hatte er dem Bedürfnis nachgegeben, sein Herz zu befriedigen. War dieser krasse Aberglaube von Lourdes nicht das abscheuliche Symptom einer Epoche allzu großer Leiden? An dem Tage, da das Evangelium in der ganzen Welt verbreitet sein und geübt werden würde, würden die Leidenden eine illusorische Linderung nicht mehr in so weiter Ferne, unter so tragischen Bedingungen suchen; denn sie würden fortan Beistand, Trost und Heilung zu Hause, in ihrer Wohnung, inmitten ihrer Brüder finden. In Lourdes hatte eine sündhafte Verrückung des Schicksals, ein fortwährender Grund zum Kampf, ein grauenhaftes Schauspiel stattgefunden, das an Gott zweifeln ließ. Das alles würde in der wahrhaft christlichen Gesellschaft verschwinden. Ach, diese christliche Gesellschaft, diese christliche Gemeinde! Das ganze Buch gipfelte in dem brennenden Wunsche: möge diese Zeit doch bald kommen! Die Zeit, da das Christentum endlich wieder die Religion der Gerechtigkeit und Wahrheit wäre, wie einst, ehe es sich von den Reichen und Mächtigen erobern ließ! Die Zeit, da die Armen und Kleinen regieren, sich in die irdischen Güter teilen und niemand mehr gehorchen würden als dem gleichmachenden Gesetz der Arbeit! Die Zeit, da der Papst allein an der Spitze der verbündeten Völker stände – ein Friedensfürst, dessen einzige Mission es wäre, die moralische Regel, das Band der Barmherzigkeit und Liebe zu sein, das alle Wesen verknüpft! War das nicht die Verwirklichung der Verheißungen Christi? Die Zeit erfüllte sich; die bürgerliche Gesellschaft und die religiöse Gesellschaft würden sich so vollständig decken, daß sie nur noch ein Ganzes bildeten; und das wäre denn das von allen Propheten geweissagte glückliche und triumphirende Zeitalter. Kein Kampf mehr, kein Antagonismus zwischen Körper und Seele; dagegen ein wunderbares Gleichgewicht, das alles Uebel töten, das das Reich Gottes auf Erden einsetzen würde. Das neue Rom, das Zentrum der Welt, der Welt die neue Religion schenkend!
Pierre fühlte, wie ihm die Thränen ins Auge stiegen. Mit einer unbewußten Geberde, ohne das Erstaunen der auf der Terrasse defilirenden mageren Engländer und stämmigen Deutschen zu bemerken, breitete er die Arme aus, dem wirklichen Rom entgegen. Es lag in so herrlichem Sonnenschein gebadet zu seinen Füßen. Würde es seinem Traum gewogen sein? Würde er wirklich in ihm die Arznei für alle unsere Ungeduld und unsere Unruhe finden? Konnte der Katholizismus sich erneuern, zum Geiste des ursprünglichen Christentums zurückkehren? Konnte er die Religion der Demokratie sein, der Glaube, den die erschütterte moderne Welt in Todesangst erwartet, um sich zu beruhigen und weiter zu leben? Sein Herz war voll edler Leidenschaft, voll Glauben. Er dachte an den guten Abbé Rose, wie er beim Lesen seines Buches vor Rührung weinte; in seinem Ohr klangen die Worte des Vicomte de la Choue, der sagte, daß ein solches Buch so viel wert sei wie eine Armee. Vor allem aber stärkte ihn die Zustimmung des Kardinals Bergerot, dieses Apostels unerschöpflicher Nächstenliebe. Warum bedrohte also die Kongregation des Index sein Werk mit dem Interdikt? Seit vierzehn Tagen, seit man ihn offiziell aufgefordert hatte, nach Rom zu kommen, wenn er sich verteidigen wolle, grübelte er über dieser Frage. Er konnte nicht herausfinden, welche Seiten seines Buches Anstoß erregten. In
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