Roman
Er starrt an die Decke und klopft mit den Fingern einen langsamen Rhythmus auf seiner Brust. Ich sitze zusammengekauert in der Ecke, die am weitesten vom Bett entfernt ist; jeder Muskel ist zum Zerreißen gespannt. Es sind zehn Minuten vergangen, seit Lawrence hinter uns die Tür abgeschlossen hat. Bisher haben wir noch kein Wort miteinander gewechselt.
Jim summt eine bekannte Melodie. Nach ein paar Takten kapiere ich, dass es Norwegian Wood von den Beatles ist.
»Begriffen?«, sagt er endlich. »Hier in diesem Zimmer gibt’s keine Stühle – genau wie im Song.«
»Ha.« Ich starre die weiß lackierte Holztür unseres Zimmers an, als ob ich sie allein mit der Kraft meines Blickes geschlossen halten könnte.
»Ich hätte die Mieze nicht über mich lachen lassen.«
»Welche Mieze?«
»Die aus dem Lied. Sie lässt ihn abblitzen und lacht ihn aus.«
»Oh.« Ich blinzele – wie mir scheint das erste Mal seit mehreren Minuten. »Ich dachte, sie hätte sich ihm an den Hals geworfen, und er hätte sie abblitzen lassen.«
»Wie kommst du auf die Idee?«
»Weil er auf dem Teppich sitzt und nicht mit ihr auf dem Bett.«
»Sie sitzt doch gar nicht auf dem Bett, sondern zusammen mit ihm auf dem Teppich.«
»Aber sie hat bloß deshalb keine Stühle, weil sie ihn im Bett haben möchte.«
»Sie hat keine Stühle, weil sie in einer schäbigen Mietwohnung mit billigen Regalen aus Kiefernholz haust.« Sein Ton trieft vor Verachtung. »Das und nichts anderes ist das Holz aus Norwegen nämlich, das ›Norwegian Wood‹, klar?«
»Oh.« Es will mir nicht in den Kopf, dass ich mich über so etwas ausgerechnet jetzt unterhalte. »Dann ist es also bloß ein Lied über einen Kerl, der nicht zum Schuss gekommen ist? Meine Interpretation ist da viel interessanter.«
Er schnaubt spöttisch. »Erzähl das mal John Lennon.«
»John Lennon ist tot«, stelle ich mit Nachdruck fest. »Du weißt das, oder?«
Jim atmet langsam und hörbar durch die Nase aus, fast eine Art Seufzer. »Ja, das weiß ich.« Plötzlich setzt er sich auf. »Willst du wissen, was wirklich interessant ist? Interessant ist, warum du den Song so und nicht anders aufgefasst hast und was das über dich sagt.« Er legt den Kopf schief. »Hast du schon viele Männer mit deiner Auffassung von Sexualität verängstigt?«
»Nein.« Ich wende das Gesicht ab und reibe mir die kalten Hände. »Definiere ›viele‹?«
Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass er mich anstarrt. »Gideon kann deinen Herzschlag wahrscheinlich selbst unten in seiner Höhle hören.«
»Granatengeil. Danke für die Info.«
»Was ich sagen wollte, ist«, er gräbt in den Taschen seiner Jeans herum, »dass du dich beruhigen musst. Und ich habe da genau das Richtige für dich!« Er entfaltet einen Plastikbeutel, der zwei bereits fertig gedrehte Joints enthält.
»Nein, danke.« Gott allein weiß, womit sein Stoff versetzt ist. »Ich ziehe es vor, bei Verstand zu bleiben.«
»Ah, damit du dann was machen kannst? Ausbrechen und fliehen?« Jim zündet sich einen der beiden Joints an und nimmt einen Zug. »Manchmal, Ciara, muss man akzeptieren, dass man keine Kontrolle über eine Situation hat. Und genau so ist das für uns momentan.«
Die Tür geht auf, und Gideon betritt unser Gefängnis, wie um die Richtigkeit von Jims These zu untermauern. Mit ihm scheint ein kalter Luftzug ins Zimmer zu dringen. Lawrence und die beiden anderen Arschkriecher folgen ihm. Einer der Typen in Schrankformat schleppt ein altmodisches, barockes Radio herein; die Art Radio, wie sie in den frühen fünfziger Jahren in jedem Wohnzimmer standen.
Ohne Jim auch nur einen Blick zu gönnen, geht Gideon quer durch den Raum auf mich zu, jeder Schritt so leise und zielstrebig wie der eines Löwen. Der alte Vampir fasst mich am Arm und führt mich zum Bett. Ich spüre die Kälte seiner Berührung, und ich spüre, obwohl seine Finger fleischig sind, seine Knochen durch das Fleisch hindurch, als ob er nicht Finger, sondern Raubvogelklauen hätte. Gideon zieht mich neben sich auf die Bettkante. Er nickt dem Lakaien mit dem Radio zu.
Der Leibwächter setzt das vorsintflutliche Riesending hart auf den Boden. Er dreht noch an den Knöpfen herum, da hören wir schon die düster-melancholische Melodie eines frühen Cure-Songs. Der einzelne Lautsprecher, den das wahrhaft antike Radio hat, lässt alles flach und hohl klingen. Meine Umgebung kommt mir noch fremdartiger vor als zuvor.
»Wow, Mann!«, meldet sich Jim zu Wort. »Das Signal
Weitere Kostenlose Bücher