Roman
des Senders ist mal ’ne Menge stärker als früher.«
Außerdem befinden wir uns auf einer Hügelkuppe, denke ich mir. Aber ich sage es nicht laut. Gideons Griff um meinen Arm schnürt mir förmlich die Kehle zu; ich bekäme gar kein Wort heraus.
Ich hasse den Typen. Nicht nur weil er Elizabeth umgebracht hat; dafür hatte er vielleicht bestimmte Gründe. Ich hasse ihn, weil er Elizabeth als Antwort auf meine Worte umgebracht hat. Wenn ich doch bloß meinen Mund gehalten hätte, vielleicht wäre dann nichts passiert.
Die Musik verklingt. Statt Regina ist es Shane, der auf Sendung ist. »Vierundneunzig Komma drei, WVMP . Zwanzig Minuten nach Mitternacht. Einen guten Abend, euch Drastic-Plastic-Hörern da draußen. Regina zieht heute Nacht um die Häuser, also übernehme ich mal früher als sonst. Beschwerdebriefe könnt ihr an … Augenblick, an wen? An Regina schicken? Nee, besser: steckt sie euch gleich sonstwohin.«
Ich bewundere ihn für seine Fähigkeit, auf Sendung alles am Laufen zu halten. Standzuhalten. Es ist Trotz, es ist Widerstand. Gern hätte ich den Lautsprecher berührt, um mich über die Schwingungen der Radiowellen mit Shane verbunden zu fühlen.
»Egal«, fährt Shane fort, »es scheint wohl, dass ein paar von euch – und ihr wisst genau, wen ich meine – diese ganze Vampir-Sache ein wenig zu ernst nehmen. Unsere Situation spitzt sich sozusagen gerade steil zu, wie die Kids es heute wohl ausdrücken würden. Na ja, vielleicht würden sie das. Also, und jetzt für alle da draußen zum Mitschreiben: ein und für alle Mal …«, er räuspert sich, was ich ihn auf Sendung noch nie habe tun hören, »wir sind keine Vampire. Okay. Weiter im Text. Dieser Song stammt nicht aus der Zeit, die meinen Musikgeschmack geprägt hat. Aber manche nennen den, der ihn geschrieben und gesungen hat, den Godfather of Grunge. Dieser Titel war einer der Lieblingssongs einer echten Freundin, die nicht mehr unter uns ist.«
Die ersten ruhigen Akkorde von Running Dry von Neil Young und Crazy Horse perlen aus dem Lautsprecher.
»Großartiger Song«, meint Jim. »Wette, den hat sich David gewünscht.«
Ich wende mich an Gideon, ohne ihn anzusehen. »Dann können wir ja jetzt gehen, richtig? Er hat’s über den Sender bekannt gegeben.«
»Das ist ein viel versprechender Anfang, ja. Aber ich erwarte Beweise für ein dauerhaftes Engagement in dieser Sache.« Endlich lässt Gideon meinen Arm los und erhebt sich. »Ich kehre vor Sonnenaufgang zurück. Ich schlage vor, du schläfst bis dahin.« Er legt seine Fingerspitzen unter mein Kinn, was mir das Blut in den Adern gefrieren lässt. »Die kommende Nacht könnte lang werden.«
Gideon und seine drei Muskelmänner gehen; das Radio lassen sie laufen.
Neil Youngs langsames, getragenes Gitarrenspiel mit widerhallenden Akkorden, vereint sich mit einer klagenden Violine. Violine und Gitarre stützen sich gegenseitig wie Geschwister bei einer Beerdigung.
Ich habe immer angenommen, dass der Untertitel des Songs, Requiem for the Rockets , bedeutet, dass Neil Young ihn verstorbenen Freunden widme. Aber Shane hat mir gesagt, die Rockets wären die ursprüngliche Band gewesen, die dann schließlich als Crazy Horse zusammenfand. Ihr Requiem spricht also davon, das loszulassen, was man einmal war, um zu neuen Ufern aufzubrechen.
Was bedeutet, dass es mehr als eine Art von Tod in dieser Welt gibt.
Ich versuche Gideons Ratschlag zu folgen. Aber es gelingt mir nicht einzuschlafen. Obwohl Jim beide Joints geraucht hat, ist er alles andere als ruhig. Er geht im Zimmer auf und ab; er reibt sich unablässig über die Wangen, die Augen, den Mund – ein sicheres Symptom für Blutdurst. Immer wieder blickt er zu mir herüber, wie ich im Bett liege.
Na, großartig. Jetzt hat er den typischen Fressflash nach dem Kiffen.
»Denk nicht einmal daran!«, warne ich ihn. Nur das Gras, das ich passiv inhaliert habe, verhindert, dass mir vor Panik ein Blutgefäß platzt.
»Ich kann sie riechen.« Jim deutet auf die Lüftungsklappe der Klimaanlage oben in der Decke. »Die anderen trinken, überall. Nur ich nicht.« Er wischt sich die Handflächen an den Jeans ab. »Es ist genau wie damals, kurz bevor ich starb. Da habe ich versucht, mich vegetarisch zu ernähren, um ein Mädchen zu beeindrucken. Alle anderen um mich herum, sämtliche meiner Freunde, haben weiterhin Burger und Steaks gegessen.«
Jemand rüttelt am Türknauf, dreht ihn dann. Die Tür geht auf, und Lawrence steht auf der Schwelle,
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