Roman eines Schicksallosen (German Edition)
gegangen, begleitet von ein paar wirren Worten, Bewegungen, einigen unvollendeten Gebärden und in der Schwebe bleibenden Sätzen.
Unten nahm mich die Straße in Empfang. Zu meiner Mutter musste ich die Straßenbahn nehmen. Aber jetzt ist mir schon eingefallen: Richtig, ich habe ja kein Geld, und so habe ich dann beschlossen, zu Fuß zu gehen. Um Kraft zu sammeln, bin ich noch für einen Augenblick auf dem Platz, bei der Bank von vorhin stehen geblieben. Dort vorn, wo ich dann würde gehen müssen und wo die Straße sich zu verlängern, zu verbreitern, ins Unendliche zu verlieren schien, waren die Schäfchenwolken über den bläulichen Hügeln schon violett und der Himmel purpurn. Auch war es, als hätte sich um mich herum etwas verändert: Der Verkehr hatte sich beruhigt, die Schritte der Menschen waren langsamer geworden, ihre Stimmen leiser, ihre Blicke milder, und es schien, als würden sie ihre Gesichter einander zuwenden. Es war die gewisse Stunde – selbst jetzt, selbst hier erkannte ich sie –, die mir liebste Stunde im Lager, und ein schneidendes, schmerzliches, vergebliches Gefühl ergriff mich: Heimweh. Alles war auf einmal wieder da, wurde lebendig und stieg in mir hoch, all die seltsamen Stimmungen, all die winzigen Erinnerungen überfielen, durchzitterten mich. Ja, in einem gewissen Sinn war das Leben dort reiner und schlichter gewesen. Alles fiel mir wieder ein, an alle erinnerte ich mich der Reihe nach, an die, die mich nicht interessierten, ebenso wie an die, die allein schon durch diese Registratur, allein schon durch mein Dasein gerechtfertigt waren: Bandi Citrom, Pjetka, Bohusch, der Arzt und alle anderen. Und zum ersten Mal dachte ich jetzt mit einem ganz kleinen Vorwurf an sie, irgendwie mit einem liebevollen Groll.
Aber wir wollen es nicht übertreiben, denn gerade da ist ja der Haken: Ich bin da, und ich weiß wohl, dass ich jeden Gesichtspunkt gelten lasse, um den Preis, dass ich leben darf. Ja, und wie ich so über den sanft in der Abenddämmerung daliegenden Platz blicke, die vom Sturm geprüfte und doch von tausend Verheißungen erfüllte Straße, da spüre ich schon, wie in mir die Bereitschaft wächst und schwillt: Ich werde mein nicht fortsetzbares Dasein fortsetzen. Meine Mutter wartet auf mich und wird sich wahrscheinlich sehr über mein Auftauchen freuen, die Arme. Ich erinnere mich, früher hatte sie den Plan, dass aus mir einst ein Ingenieur, ein Arzt oder dergleichen werde. Es wird aller Wahrscheinlichkeit nach auch so werden, wie sie es wünscht; es gibt keine Absurdität, die man nicht ganz natürlich leben würde, und auf meinem Weg, das weiß ich schon jetzt, lauert wie eine unvermeidliche Falle das Glück auf mich. Denn sogar dort, bei den Schornsteinen, gab es in der Pause zwischen den Qualen etwas, das dem Glück ähnlich war. Alle fragen mich immer nur nach Übeln, den «Gräueln»: obgleich für mich vielleicht gerade diese Erfahrung die denkwürdigste ist. Ja, davon, vom Glück der Konzentrationslager, müsste ich ihnen erzählen, das nächste Mal, wenn sie mich fragen.
Wenn sie überhaupt fragen. Und wenn ich es nicht selbst vergesse.
Informationen zum Buch
«Ein literarisches Meisterwerk.» (Der Spiegel)
Imre Kertész ist etwas Skandalöses gelungen: die Entmystifizierung von Auschwitz. Es gibt kein literarisches Werk, das in dieser Konsequenz, ohne zu deuten, ohne zu werten, der Perspektive eines staunenden Kindes treu geblieben ist. Wohl nie zuvor hat ein Autor seine Figur Schritt für Schritt bis an jene Grenze hinab begleitet, wo das nackte Leben zur hemmungslosen, glücksüchtigen, obszönen Angelegenheit wird.
Informationen zum Autor
Am 9. November 1929 in Budapest geboren, wurde Imre Kertész 1944 nach Auschwitz deportiert und 1945 in Buchenwald befreit. Nach Kriegsende folgte die journalistische Tätigkeit bei der Tageszeitung «Világosság», die bald umbenannt und zum Parteiorgan der Kommunisten wurde. Nach seiner Entlassung bestritt Kertész seit 1953 seinen Lebensunterhalt als freier Schriftsteller und schrieb Musicals und Unterhaltungsstücke für das Theater. Im Jahre 2002 wurde er mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.
Das bekannteste Werk des Autors, «Roman eines Schicksallosen», erschien auf Ungarisch 1975. Seitdem ist es in mehr als 40 Sprachen übersetzt worden. Die Verfilmung des Romans durch Lajos Koltai wurde einem internationalen Publikum im Wettbewerb der Berlinale 2005 präsentiert.
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