Roman eines Schicksallosen (German Edition)
dort?» – «Ein Jahr, alles in allem.» – «Du hast wahrscheinlich viel gesehen, mein Junge, viele Gräuel», meinte er da, und ich habe nichts gesagt. «Na ja», fuhr er fort. «Hauptsache, es ist aus und vorbei», seine Miene hellte sich auf, er zeigte auf die Häuser, an denen wir gerade vorbeirumpelten, und erkundigte sich, was ich jetzt wohl empfand, wieder zu Hause, beim Anblick der Stadt, die ich damals verlassen hatte. Ich sagte: «Hass.» Er schwieg eine Weile, bemerkte dann aber, er müsse mein Gefühl leider verstehen. Im Übrigen habe «je nach den Umständen», so meinte er, auch der Hass seinen Platz, seine Rolle, «ja seinen Nutzen», und er nehme an, fügte er hinzu, wir seien uns da einig, und er wisse wohl, wen ich hasste. Ich sagte: «Alle.» Er schwieg wieder, dieses Mal etwas länger, und fragte dann: «Hast du viel Schreckliches durchmachen müssen?», und ich sagte, es käme darauf an, was er unter schrecklich verstehe. Bestimmt, sagte er da, mit einem etwas unbehaglichen Ausdruck im Gesicht, hätte ich viel entbehren, hungern müssen, und wahrscheinlich sei ich auch geschlagen worden, und ich sagte: «Natürlich.» – «Lieber Junge», rief er da, wobei er, wie mir schien, doch langsam die Geduld verlor, «warum sagst du bei allem, es sei natürlich, und immer bei Dingen, die es überhaupt nicht sind!» Ich sagte, im Konzentrationslager sei so etwas natürlich. «Ja, ja», sagte er, «dort schon, aber …», und hier stockte, zögerte er ein bisschen, «aber … ich meine, das Konzentrationslager an sich ist nicht natürlich!», endlich hatte er gewissermaßen das richtige Wort erwischt, und ich erwiderte dann auch nichts darauf, denn ich begann allmählich einzusehen: Über bestimmte Dinge kann man mit Fremden, Ahnungslosen, in gewissem Sinn Kindern, nicht diskutieren, um es so zu sagen. Und im Übrigen – so fiel mir beim Anblick des Platzes, der noch immer vorhanden, höchstens etwas kahler und ungepflegter geworden war, plötzlich ein –, ich musste ja aussteigen, und das teilte ich ihm auch mit. Doch er kam mit mir, zeigte dann auf eine schattige Bank ohne Rückenlehne und schlug vor, wir sollten uns dort für einen Augenblick hinsetzen.
Zunächst schien er einigermaßen unsicher. Tatsächlich – so hat er bemerkt – kämen «die Schrecklichkeiten erst jetzt wirklich an den Tag», und er fügte hinzu, dass «die Welt vorläufig verständnislos vor der Frage steht, wie, auf welche Art, das alles überhaupt geschehen konnte». Ich sagte nichts, und da hat er sich auf einmal ganz zu mir gewandt und gesagt: «Mein Junge, möchtest du nicht über deine Erlebnisse berichten?» Ich staunte ein bisschen und sagte, sehr viel Interessantes könnte ich ihm nicht erzählen. Da hat er ein wenig gelächelt und gesagt: «Nicht mir: der Welt.» Darauf staunte ich noch mehr und wollte wissen: «Aber worüber denn?» – «Über die Hölle der Lager», antwortete er, worauf ich bemerkte, darüber könne ich schon gar nichts sagen, weil ich die Hölle nicht kenne und sie mir nicht einmal vorstellen kann. Aber er sagte, das sei bloß so ein Vergleich: «Haben wir uns denn», fragte er, «das Konzentrationslager nicht als Hölle vorzustellen?», und ich sagte, während ich mit dem Absatz ein paar Kreise in den Staub zeichnete, jeder könne es sich vorstellen, wie er wolle, ich meinerseits könne mir jedenfalls nur das Konzentrationslager vorstellen, denn das kenne ich bis zu einem gewissen Grad, die Hölle aber nicht. «Aber wenn nun doch?», drängte er, und nach ein paar weiteren Kreisen sagte ich: «Dann würde ich sie mir als einen Ort vorstellen, wo man sich nicht langweilen kann», wohingegen man das, so fügte ich hinzu, im Konzentrationslager könne, sogar in Auschwitz – unter bestimmten Voraussetzungen, versteht sich. Daraufhin schwieg er ein Weilchen, und dann fragte er, irgendwie aber schon widerwillig, wie mir schien: «Ja, und womit erklärst du das?», und da habe ich nach einigem Nachdenken gefunden: «Mit der Zeit.» – «Was heißt das, mit der Zeit?» – «Das heißt, dass die Zeit hilft.» – «Hilft …? Wobei?» – «Bei allem», und ich versuchte ihm zu erklären, wie es ist, an einem nicht gerade luxuriösen, im Ganzen aber doch annehmbaren, sauberen und hübschen Bahnhof anzukommen, wo einem alles erst langsam, in der Abfolge der Zeit, Stufe um Stufe klar wird. Wenn man die eine Stufe hinter sich gebracht hat, sie hinter sich weiß, kommt bereits die nächste. Wenn
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