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Roman eines Schicksallosen (German Edition)

Roman eines Schicksallosen (German Edition)

Titel: Roman eines Schicksallosen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Imre Kertész
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wanderte, habe ich ihn immer dort gesehen, in derselben Ecke, in der es allmählich dunkler wurde, in dem Maß, wie der Nachmittag fortschritt: Jetzt waren nur noch seine kahle Stirn und die Biegung seiner Nase irgendwie von einem stumpfen gelblichen Licht beleuchtet, während seine Augenhöhlen und der untere Teil seines Gesichts im Schatten versanken. Und nur am Blitzen seiner kleinen Augen war zu erkennen, dass er jede Bewegung im Zimmer verfolgte, ganz unmerklich.
    Überdies ist auch noch eine Kusine meiner Stiefmutter gekommen, mit ihrem Mann. Ich rede ihn «Onkel Vili» an, denn so heißt er. Mit seinem Gang ist etwas nicht ganz in Ordnung, und deshalb trägt er an einem Fuß einen Schuh mit dickerer Sohle, andererseits verdankt er diesem Umstand auch das Privileg, dass er nicht zum Arbeitsdienst muss. Er hat einen birnenförmigen Kopf, oben breit, rund und kahl, an den Wangen jedoch und zum Kinn hin schmaler. Man hält in der Familie große Stücke auf seine Meinung, denn bevor er ein Wettbüro für Pferderennen aufmachte, war er im Journalismus tätig. Auch jetzt wollte er sofort von interessanten Neuigkeiten berichten, die er «aus sicherer Quelle» hatte und als «absolut glaubwürdig» bezeichnete. Er setzte sich in einen Lehnstuhl, das schlimme Bein steif weggestreckt, rieb sich mit einem trockenen Rascheln die Hände aneinander und teilte uns mit, dass «in unserer Situation demnächst eine grundlegende Wende zu erwarten» sei, weil «geheime Verhandlungen» unseretwegen begonnen hätten, und zwar «zwischen den Deutschen und den alliierten Mächten, mit neutraler Vermittlung». Die Deutschen hätten nämlich, nach Onkel Vilis Erklärungen, ihre hoffnungslose Lage an allen Fronten «nun bereits selbst erkannt». Er war der Ansicht, wir, «das Judentum Budapests», kämen ihnen geradezu «wie gerufen», um «auf unserem Rücken Vorteile bei den Alliierten herauszuschinden», die dann natürlich für uns alles tun würden, was getan werden könnte; und hier erwähnte er einen nach seiner Meinung «wichtigen Faktor», den er noch von seiner journalistischen Tätigkeit her kannte und den er «die Weltöffentlichkeit» nannte; er sagte, diese Letztere sei «erschüttert» von den Geschehnissen, die uns beträfen. Es gehe natürlich hart auf hart – so meinte er weiter –, und gerade das erkläre die augenblickliche Schärfe der Maßnahmen, die gegen uns ergriffen würden; doch das seien lediglich die natürlichen Folgen «des großen Spiels, in dem wir im Grunde nur das Werkzeug für ein riesiges internationales Erpressungsmanöver sind»; er sagte jedoch, dass er, der durchaus wisse, was unterdessen «hinter den Kulissen geschieht», das alles in erster Linie für «spektakulären Bluff» halte, des höheren Preises wegen, und er bat uns nur um ein wenig Geduld, bis «die Dinge ihren Lauf nehmen». Worauf mein Vater ihn gefragt hat, ob das noch für morgen zu erwarten sei oder ob er seine Einberufung auch als bloßen «Bluff» betrachten und morgen vielleicht gar nicht erst ins Arbeitslager einrücken solle. Da ist Onkel Vili ein bisschen verlegen geworden. Er sagte: «Nun ja, das nicht, natürlich nicht.» Doch er sagte auch, er sei da ganz ruhig, mein Vater würde bald wieder zu Hause sein. «Es ist fünf vor zwölf», hat er gesagt und sich dabei in einem fort die Hände gerieben. Und er hat auch noch hinzugefügt: «Wäre ich doch bloß bei einem einzigen meiner Renntipps so sicher gewesen wie bei dieser Sache, dann wäre ich jetzt nicht ein so armer Schlucker!» Er wollte noch fortfahren, aber meine Stiefmutter und ihre Mama waren gerade fertig mit dem Rucksack, und mein Vater erhob sich von seinem Platz, um das Gewicht auszuprobieren.
    Als Letzter kam der älteste Bruder meiner Stiefmutter, Onkel Lajos. Er nimmt in unserer Familie irgendwie eine wichtige Stellung ein, obwohl ich nicht ganz genau angeben könnte, welche. Er wünschte sogleich, mit meinem Vater unter vier Augen zu sprechen. Ich konnte sehen, dass dies meinem Vater auf die Nerven ging und dass er, wenn auch sehr taktvoll, versuchte, es schnell hinter sich zu bringen. Danach hat Onkel Lajos überraschend mich in die Zange genommen. Er sagte, er möchte mit mir «ein bisschen plaudern». Er hat mich in eine verlassene Ecke des Zimmers geschleppt und, Auge in Auge mit ihm, gegen einen Schrank gestellt. Er fing damit an, ich wisse ja, dass mein Vater «uns morgen verlässt». Ich sagte, ich wisse es. Dann wollte er hören, ob er mir hier

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