Roman eines Schicksallosen (German Edition)
hinaufwollte, kam sie heruntergehüpft. Sie wohnt auf unserem Stock, bei den Steiners, mit denen wir uns jeweils bei den alten Fleischmanns treffen, neuerdings jeden Abend. Früher haben wir von der Nachbarschaft nicht sonderlich Kenntnis genommen: Aber jetzt hat sich eben herausgestellt, dass wir von der gleichen Sorte sind, und das verlangt nach einem kleinen abendlichen Gedankenaustausch, die gemeinsamen Aussichten betreffend. Annamaria und ich reden währenddessen über andere Dinge, und so habe ich erfahren, dass die Steiners eigentlich bloß ihr Onkel und ihre Tante sind: Ihre Eltern leben nämlich in Scheidung, und da sie sich bis dahin ihretwegen nicht einigen konnten, haben sie beschlossen, dass sie dann lieber hier sein soll, wo sie bei keinem von beiden ist. Zuvor war sie in einem Internat, aus demselben Grund, so wie übrigens früher auch ich. Auch sie ist vierzehn, so ungefähr. Sie hat einen langen Hals. Unter ihrem gelben Stern beginnt sich schon ihr Busen zu runden. Sie musste auch gerade zur Bäckerei. Sie wollte noch wissen, ob ich am Nachmittag nicht Lust hätte auf ein bisschen Rommé, zu viert, mit ihr und den beiden Schwestern. Diese wohnen einen Stock über uns. Annamaria ist mit ihnen befreundet, ich hingegen kenne sie nur flüchtig, vom Gang und vom Luftschutzkeller. Die Kleinere sieht erst so nach elf oder zwölf aus. Die Größere ist, wie ich von Annamaria weiß, genauso alt wie sie. Manchmal, wenn ich gerade in unserem Zimmer auf der Hofseite bin, sehe ich sie auf dem gegenüberliegenden Gang, wie sie gerade forteilt oder nach Hause zurückkehrt. Ein paarmal bin ich ihr auch schon unter dem Tor begegnet. Ich dachte bei mir, dann könnte ich sie jetzt ein bisschen näher kennenlernen: Lust dazu hatte ich. Doch im selben Augenblick fiel mir mein Vater ein, und ich sagte dem Mädchen, heute nicht, da mein Vater einberufen worden ist. Da hat sie sich auch sofort erinnert, dass sie die Sache mit meinem Vater schon daheim von ihrem Onkel erfahren hatte. Und sie machte die Bemerkung: «Natürlich.» Wir schwiegen ein Weilchen. Dann hat sie gefragt: «Und morgen?» Aber ich habe ihr gesagt: «Lieber übermorgen.» Und auch da habe ich gleich noch hinzugefügt: «Vielleicht.»
Als ich nach Hause kam, fand ich meinen Vater und meine Stiefmutter schon bei Tisch vor. Während sie sich mit meinem Teller beschäftigte, fragte meine Stiefmutter, ob ich hungrig sei. Ich sagte: «Entsetzlich», ohne, so plötzlich, etwas dabei zu denken und weil es nun einmal in der Tat so war. Sie hat dann meinen Teller auch richtig beladen, auf den ihren jedoch hat sie kaum etwas genommen. Aber gar nicht ich, sondern mein Vater war es, der es bemerkte und sie fragte, warum. Sie hat irgendetwas geantwortet wie: Im Augenblick sei ihr Magen nicht fähig, etwas aufzunehmen, und da sah ich meinen Fehler sofort ein. Gut, mein Vater missbilligte ihr Verhalten. Er führte an, dass sie sich nicht gehenlassen dürfe, gerade jetzt, wo es auf ihre Kraft und Ausdauer am meisten ankomme. Meine Stiefmutter hat nicht geantwortet, aber es war etwas zu hören, und als ich aufblickte, habe ich auch gesehen, was: Sie weinte. Es war wieder ziemlich peinlich, ich gab mir Mühe, nur auf meinen Teller zu schauen. Trotzdem habe ich die Bewegung bemerkt, mit der mein Vater nach ihrer Hand gegriffen hat. Nach einer kleinen Weile nahm ich wahr, dass sie ganz still waren, und als ich vorsichtig aufblickte, saßen sie Hand in Hand und sahen sich sehr innig an, eben so wie ein Mann und eine Frau. Das habe ich nie gemocht, und auch jetzt hat es mich geniert. Obwohl es im Grunde genommen ja ganz natürlich ist, glaube ich. Ich mag es trotzdem nicht. Ich weiß nicht, warum. Mir ist gleich leichter geworden, als sie wieder zu sprechen anfingen. Auch von Herrn Sütő war wieder kurz die Rede und natürlich von der Schatulle und von unserem anderen Holzlager: Ich hörte, dass es meinem Vater eine Beruhigung war, wenigstens diese Dinge, wie er sagte, «in guten Händen zu wissen». Meine Stiefmutter teilte diese Beruhigung, auch wenn sie flüchtig doch wieder auf die Sache mit den «Garantien» zu sprechen kam, in dem Sinn, dass diese nur auf dem gegebenen Wort beruhten und dass es sehr fraglich sei, ob so etwas genüge. Mein Vater hat die Achseln gezuckt und geantwortet, dass es nicht nur im Geschäftsleben, sondern auch «in den übrigen Bereichen des Lebens» für nichts mehr eine Garantie gebe. Meine Stiefmutter hat ihm mit einem Aufseufzen sogleich
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