Roman eines Schicksallosen (German Edition)
beigepflichtet: Sie bedauerte schon, die Angelegenheit erwähnt zu haben, und sie bat meinen Vater, nicht so zu sprechen, nicht so etwas zu denken. Da aber hat er daran gedacht, wie meine Stiefmutter mit den großen Sorgen fertig werden soll, die ihr aufgebürdet sind, in so schweren Zeiten, ohne ihn, allein: Doch meine Stiefmutter hat geantwortet, sie sei nicht allein, da ich ihr ja zur Seite stehe. Wir zwei – so fuhr sie fort – würden aufeinander aufpassen, solange mein Vater nicht wieder in unsere Mitte zurückgekehrt sei. Sie wandte sich mir zu, den Kopf etwas zur Seite geneigt, und fragte: So ist es doch, oder? Sie lächelte, aber gleichzeitig zitterten ihre Lippen. Ich habe ja gesagt. Auch mein Vater schaute mich an, mit einem milden Blick. Das hat mich irgendwie ergriffen, und um etwas für ihn zu tun, habe ich den Teller weggeschoben. Er hat es bemerkt und mich gefragt, warum ich das tue. Ich habe gesagt: «Ich habe keinen Appetit.» Wie ich sah, tat ihm das gut: Er hat mir über das Haar gestrichen. Und wegen dieser Berührung würgte mich zum ersten Mal an diesem Tag auch etwas in der Kehle; aber nicht Weinen, sondern eine Art Übelkeit. Ich hätte mir gewünscht, mein Vater wäre nicht mehr da. Es war ein schlechtes Gefühl, aber es war so stark, dass ich nur das über Vater denken konnte, und ich war in diesem Augenblick ganz durcheinander. Gleich danach hätte ich dann auch weinen können, aber ich hatte keine Zeit, weil die Gäste kamen.
Meine Stiefmutter hatte sie schon zuvor erwähnt: Nur die engste Familie kommt – so hatte sie gesagt. Und als mein Vater irgendwie eine Geste machte, hat sie hinzugefügt: «Aber sie wollen sich doch von dir verabschieden. Das ist doch nur natürlich!» Und da hat es schon geklingelt: Die Schwester meiner Stiefmutter und ihre Mama trafen ein. Bald darauf sind auch die Eltern meines Vaters, mein Großvater und meine Großmutter, gekommen. Meine Großmutter haben wir schnellstens auf das Kanapee gesetzt, denn mit ihr verhält es sich so, dass sie selbst durch ihre dicke Vergrößerungsglas-Brille kaum etwas sieht, und in mindestens gleichem Maß ist sie schwerhörig. Aber sie will trotzdem am Geschehen teilnehmen und dazu beitragen. In solchen Augenblicken hat man alle Hände voll mit ihr zu tun, weil man ihr einerseits fortwährend ins Ohr schreien muss, wie die Dinge stehen, andererseits geschickt verhindern muss, dass sie sich auch noch einmischt, weil das bloß Verwirrung stiften würde.
Die Mama meiner Stiefmutter erschien in einem kegelförmigen, kriegerischen Hut mit Krempe: vorn sogar mit einer Feder darauf, quer. Sie hat ihn dann aber bald abgenommen, und da ist ihr schönes, etwas schütteres, schneeweißes Haar zum Vorschein gekommen, mit dem dünngeflochtenen schmächtigen Knoten. Sie hat ein hageres gelbes Gesicht, dunkle große Augen, und von ihrem Hals hängen zwei welke Hautlappen herunter: In gewisser Weise ähnelt sie einem sehr klugen edlen Jagdhund. Der Kopf zittert ihr fortwährend ein bisschen. Ihr ist die Aufgabe zugefallen, den Rucksack für meinen Vater zu packen, weil sie sich auf solcherlei Arbeiten besonders versteht. Sie hat sich dann auch sofort darangemacht, anhand der Liste, die ihr meine Stiefmutter übergab.
Die Schwester meiner Stiefmutter haben wir allerdings nun gar nicht gebrauchen können. Sie ist viel älter als meine Stiefmutter und auch ihrem Äußeren nach ganz anders, so als wären sie gar keine Geschwister: Sie ist klein, dicklich und hat ein Gesicht wie eine staunende Puppe. Sie schwatzte furchtbar viel und weinte auch und hat alle umarmt. Auch ich konnte mich nur mit Mühe von ihrem sich weich anfühlenden, nach Puder riechenden Busen befreien. Als sie sich hinsetzte, stürzte das ganze Fleisch ihres Körpers über die kurzen Oberschenkel. Und um auch von meinem Großvater zu sprechen: Er seinerseits ist stehen geblieben, da, neben dem Kanapee mit meiner Großmutter, und hat sich geduldig, mit unbewegtem Gesicht ihre Klagen angehört. Zuerst hat sie wegen meines Vaters gejammert; doch mit der Zeit ließen sie ihre eigenen Leiden diesen Kummer vergessen. Sie klagte über Kopfschmerzen, dann beklagte sie sich über das Rauschen und Dröhnen, das der Blutdruck in ihren Ohren hervorruft. Mein Großvater ist das schon gewöhnt: Er antwortete ihr auch gar nicht. Er hat sich aber auch die ganze Zeit nicht von ihrer Seite gerührt. Nicht ein einziges Mal habe ich ihn etwas sagen hören, aber sooft mein Blick in die Richtung
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