Roman eines Schicksallosen (German Edition)
fehlen werde. Ich antwortete, wobei seine Frage mir doch etwas auf die Nerven ging: «Selbstverständlich.» Und weil mir das irgendwie zu wenig schien, habe ich gleich noch hinzugefügt: «Sehr.» Worauf er eine Zeit lang bloß genickt hat, mit klagender Miene.
Daraufhin habe ich aber ein paar interessante und überraschende Dinge von ihm erfahren. Zum Beispiel, dass ein bestimmter Abschnitt meines Lebens, den er «die sorglosen, glücklichen Kinderjahre» nannte, mit dem heutigen traurigen Tag nunmehr für mich zu Ende sei. Gewiss, so sagte er, hätte ich in dieser Form noch gar nicht darüber nachgedacht. Ich musste zugeben: nein. Doch sicher – fuhr er fort – würden seine Worte mich trotzdem nicht ganz überraschen. Ich sagte wieder nein. Darauf hat er mich wissen lassen, dass meine Stiefmutter nach dem Weggang meines Vaters ohne Stütze sei, und auch wenn die Familie «ein Auge auf uns haben wird», so bliebe doch ich von nun an ihre Hauptstütze. Bestimmt – sagte er – würde ich vor der Zeit erfahren, «was Sorge und Verzicht ist». Denn es sei ganz klar, dass ich es von nun an nicht mehr so gut haben könnte wie bisher – und das wolle er mir auch nicht verheimlichen, da wir ja nun «unter Erwachsenen» sprächen. «Jetzt», so sagte er, «hast auch du Anteil am gemeinsamen jüdischen Schicksal», und dann ist er noch weiter darauf eingegangen, wobei er etwa erwähnte, dass dieses Schicksal «seit Jahrtausenden aus unablässiger Verfolgung besteht», was die Juden jedoch «mit Ergebenheit und opferwilliger Geduld auf sich zu nehmen haben», da Gott ihnen dieses Schicksal um ihrer einstigen Sünden willen zuteilwerden lasse, und gerade deswegen könnten sie auch nur von Ihm Barmherzigkeit erwarten; Er hingegen würde von uns erwarten, dass wir in dieser schweren Zeit an unserem Platz bleiben, an dem Platz, den Er uns zugeteilt hat, «je nach unseren Kräften und Fähigkeiten». Ich zum Beispiel – so habe ich von ihm erfahren – müsse künftig in der Rolle des Familienoberhaupts an meinem Platz bleiben. Und er wollte wissen, ob ich die Kraft und die Bereitschaft dazu in mir fühlte. Ich hatte zwar seinem Gedankengang bis dahin nicht ganz folgen können, vor allem da nicht, als er das von den Juden, ihren Sünden und ihrem Gott gesagt hatte, aber irgendwie war ich von seinen Worten doch ergriffen. So habe ich eben gesagt: Ja. Er schien zufrieden. Gut, sagte er. Er habe schon immer gewusst, dass ich ein verständiger Junge sei, der «über tiefe Gefühle und ein ernstes Verantwortungsbewusstsein» verfüge; und das sei bei den vielen Schicksalsschlägen ein gewisser Trost für ihn – so war seinen Worten zu entnehmen. Und dann hat er mir mit seinen Fingern, die außen mit Haarbüscheln bedeckt und innen leicht feucht waren, unters Kinn gegriffen, hat mein Gesicht angehoben und mit leiser, leicht zitternder Stimme gesagt: «Dein Vater steht vor einer großen Reise. Hast du schon für ihn gebetet?» In seinem Blick war etwas Strenges, und vielleicht hat das in mir das peinliche Gefühl geweckt, ich hätte meinem Vater gegenüber etwas versäumt, weil ich, nun ja, von mir aus tatsächlich nicht daran gedacht hätte. Doch nun, da er dieses Gefühl in mir geweckt hatte, fing ich an, es als Belastung zu empfinden, als eine Art Schuld, und um mich davon zu befreien, habe ich ihm gestanden: «Nein.» – «Komm mit», sagte er.
Ich musste ihm in unser Zimmer auf der Hofseite folgen. Hier, umgeben von ein paar verschlissenen, nicht mehr benutzten Möbeln, beteten wir. Onkel Lajos hat zunächst ein kleines, rundes, seidig glänzendes schwarzes Käppchen genau da auf seinen Kopf gesetzt, wo sein spärliches graues Haar eine kleine Lichtung bildet. Auch ich hatte meine Mütze aus dem Flur mitnehmen müssen. Dann hat er aus der Innentasche seiner Jacke ein Büchlein mit schwarzem Einband und rotem Rand und aus der Brusttasche seine Brille hervorgeholt. Danach begann er mit dem Vorlesen des Gebets, und ich musste ihm immer so viel Text nachsprechen, wie er mir jeweils vorsprach. Am Anfang ging es gut, aber bald fand ich diese Anstrengung ermüdend, und mich störte auch einigermaßen, dass ich kein Wort von dem verstand, was wir zu Gott sagten, da wir Ihn ja auf Hebräisch anrufen müssen und ich diese Sprache gar nicht kenne. Daher musste ich, um trotzdem folgen zu können, unablässig auf die Mundbewegungen von Onkel Lajos achtgeben, sodass mir von dem Ganzen eigentlich nur der Anblick der feucht zuckenden,
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