Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
würden tagelang unterwegs sein, aber irgendwann würde ich in Istanbul ankommen.
Ich nickte bald ein, und wenn ich hin und wieder aus dem Schlaf schreckte, sah ich Temeltepe vor mir und fragte mich, wie ich dort überhaupt hatte leben können. Vor allem ein kurdischer Rekrut ging mir nicht aus dem Sinn, der ständig geschlagen wurde, weil er nicht Türkisch konnte. Noch heute sehe ich ihn manchmal vor mir: An seinem Verhalten und seinen Gesichtszügen war abzulesen, dass er geistig ein wenig behindert war. Er besaß eine Hirtenflöte, auf der er abends in einer Ecke tieftraurige Lieder blies. Es war ein guter Junge, aber Tag für Tag wurde er angeschrien, er solle gefälligst Türkisch reden, und dann schlugen sie ihn wieder. Wenn er einen Unteroffizier nahen sah, hob er auch schon schützend die Hände über den kahlgeschorenen Kopf.
Für mich war die Hölle von Temeltepe vorbei, und es blieb davon lediglich ein leichter Beinschmerz übrig, der sich an kalten Tagen bemerkbar macht, und die Erinnerung an die dunklen, feinen Gesichter der anatolischen Rekruten.
Nach Temeltepe waren die ersten Tage in Istanbul von unglaublicher Schönheit. Noch dazu wurde es gerade Frühling …
Während ich bei Merck arbeitete, hatte es geheißen, wenn ich einmal zum Militär müsste, würde mir mein Gehalt fortgezahlt, aber dieses Versprechen war nicht eingehalten worden. Vermutlich hatten die Drohungen ihre Wirkung gezeitigt. Um mich darüber hinwegzutrösten, versicherte man mir, mich gleich nach meinem Wehrdienst wieder einzustellen. Ohnehin dauerte dieser nicht allzu lange, denn aufgrund meines Augenleidens war er auf ein halbes Jahr beschränkt worden.
Nach der »Luftveränderung« wurde ich nach Ankara versetzt und verbrachte die restliche Zeit in einem Krankenhaus.
Dadurch, dass ich meinen Wehrdienst abgeleistet hatte, verfügte ich wieder über mehr Handlungsspielraum. Ich hatte zwar nicht vor, mein Leben lang für ein Pharmaunternehmen zu arbeiten, aber eine Weile brauchte ich die Stelle doch noch und erinnerte meine Vorgesetzten an ihr Versprechen. Nach Trabzon wollte ich allerdings nicht mehr. In ihrer Bedrängnis versetzte mich die Direktion zunächst einmal ins westtürkische Eskişehir. Wir suchten uns dort eine neue Wohnung, aber das Verhalten der Direktion machte bald deutlich, dass ich bei Merck nicht länger bleiben konnte. So verließ ich die Firma wenige Monate später, und wir kehrten zurück nach Ankara.
Ich brauchte also eine neue Arbeit, und da kam mir eine Idee. Es gab damals in Ankara keinen nennenswerten Buchvertrieb. Wenn neue Bücher erschienen, wurden sie an einen kleinen Laden in der Kocabeyoğlu-Passage geliefert, und dort konnte sich dann jeder Buchhändler ein paar Exemplare davon besorgen. Es gab aber keine Garantie dafür, dass man von jeder Neuerscheinung etwas abbekam, und bestellen konnte man erst recht nichts. Somit gab es in ganz Ankara gerade einmal zwei Buchhandlungen, in denen man einigermaßen bekam, was man wollte.
Was lag also näher als die Gründung einer Firma, die sich in Istanbul Neuerscheinungen besorgte und sich in Ankara um ihren Vertrieb kümmerte? Der Buchabsatz würde sich dadurch in Ankara vervielfachen.
Ich fand diesen Gedanken so aufregend, dass ich die Zahl potentieller Leser in Ankara maßlos überschätzte. Ein Freund von mir, Akay Sayılır, ein Jurastudent aus begütertem Haus, ließ sich von meiner Begeisterung anstecken und nahm einen Bankkredit auf, für den er seine Eigentumswohnung belieh.
So gründeten wir unsere Firma und mieteten einen Laden, den wir mit schönen Bücherregalen ausstatteten. Dann fuhren wir zu Unterredungen mit Verlegern nach Istanbul.
Ülker und ich wohnten inzwischen wieder im Stadtviertel Bahçelievler. Die Zusammenarbeit mit Akay Sayılır lief bestens, denn der Junge war ein grundguter Mensch, der sich durch nichts aus der Ruhe bringen ließ und ganz im Umgang mit Büchern aufging.
Meine Schicksalsgemeinschaft mit Akay Sayılır sollte jedoch im Gefängnis enden. Die Türkei ging nämlich auf das Jahr 1971 zu und damit auf den zweiten Militärputsch. Davor aber erlebte sie die wohl lebendigste Epoche ihrer Geschichte, denn überall tat sich etwas: Verlage, Theater, Konzerte, Zeitschriften, politische Versammlungen, und der Mittelpunkt all dessen war Ankara und ganz besonders die Gegend um den Kızılay-Platz, wo sich auf wenigen Hundert Quadratmetern etwas anstaute, das die gegebenen Verhältnisse ins Wanken brachte.
Es war
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