Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
dann sogar zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Während er von allen Seiten unter Druck gesetzt wurde, lebte er mit seiner Familie in einer Mietwohnung in Trabzon und trotzte voller Anstand sämtlichen Anfeindungen. Jahrelang war er mein engster Freund. Es war unmöglich, von seiner außergewöhnlichen Intelligenz und seinem Charisma nicht beeindruckt zu sein. Wir trafen uns, so oft es ging, und diskutierten theoretische Fragen des Sozialismus. Mit seiner Familie gingen wir picknicken und baden.
Die gerade erst gegründete Türkische Arbeiterpartei, die frischen Wind ins Politikleben brachte und von jedermann aufmerksam beobachtet wurde, organisierte sich damals auch in Trabzon. Die Leute fragten sich, was diese »Linken« wohl für Menschen seien, und bei einem großen Fahnenumzug konnte ihre Neugier gestillt werden, denn wie alle anderen Vereine und Organisationen defilierte auch die Handvoll Mitglieder der Arbeiterpartei mit ihren Fahnen durch Trabzon. Zufälligerweise gehörten der Parteileitung mehrere Behinderte an; einer etwa hinkte, ein anderer hatte einen verkrüppelten Arm. So war das Urteil der Leute am Straßenrand schnell gefällt: »Aha, die hat Gott gestraft, und deswegen sind sie gegen Religion.«
Wir freundeten uns mit einem stets gut gelaunten Zeichenlehrer namens Mustafa Beşgen an, der uns oft fotografierte, sei es bei Strandspaziergängen oder abendlichen Gesprächen im Garten. Manchem von uns war er nicht ganz geheuer, doch ich nahm ihn immer in Schutz, da ich meinte, ihn für meine sozialistische Weltanschauung gewinnen zu können.
Als ich nach dem zweiten Militärputsch vom 12. März 1971 verhört wurde, musste ich erstaunt feststellen, dass jener Mustafa Beşgen ein Spitzel gewesen war und laufend Berichte an den Geheimdienst geschickt hatte. Die harmlosesten Picknicks hatte er als geheime Treffen deklariert, bei denen Attentatspläne geschmiedet würden. Ich sollte wegen dieser verlogenen Berichte noch in größte Schwierigkeiten kommen.
Die Arbeiterpartei bekam damals immer mehr Zulauf und gewann allmählich Ansehen in der Bevölkerung. Zwar machten sich auch schon die ersten internen Zwistigkeiten bemerkbar, und auf dem Parteitag von Malatya kam es zu einer deutlichen Fraktionenbildung, doch nach außen drang davon nicht viel. Bedrängt wurde die um einen Neuanfang bemühte Partei allerdings von der traditionellen Linken, die sich ihren Anteil am Kuchen sichern wollte. Wir in Trabzon hielten es aber eher mit dem Parteivorsitzenden Mehmet Ali Aybar.
Da ich oft unterwegs war, hatte ich viel Gelegenheit, mich an allen möglichen Orten mit linksgerichteten Menschen zu unterhalten. Wir waren uns sicher, dass die Türkei auf eine Revolution zuging. Wir waren die Zukunft des Landes und die Vertreter von Menschlichkeit, Solidarität, Arbeit und Kultur. Durch unsere Führung würde den Menschen in der Türkei ein glücklicheres und sinnvolleres Leben beschert.
Ich kam bis in entlegene Bergdörfer hinauf und sprach dort in den Kaffeehäusern lange mit den Bauern. Ich mochte eine ziemliche Überzeugungskraft an den Tag gelegt haben, doch dass die Leute mir mit Sympathie begegneten, lag wohl auch an den Medikamenten, die ich ihnen brachte, denn wegen des feuchten Schwarzmeerklimas hatten sie viel mit Rheumatismus zu kämpfen, und das von mir vertriebene Neurobion war äußerst wirksam.
I mmer wieder bringe ich Trabzon mit Stockholm durcheinander. Als ich Jahre später in Stockholm lebte, versprach ich mich oft und sagte Trabzon. Lange war mir nicht klar, was diese seltsame Verwechslung bedeuten sollte, aber schließlich erkannte ich den Zusammenhang: Beide Städte repräsentieren in meinem Leben einen Wandel. Ich habe jeweils in einer Phase, in der ich mit allen möglichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, in einer völlig fremden Stadt einen Neuanfang gewagt, das erste Mal in Trabzon, das zweite Mal in Stockholm. Die beiden Städte waren meine Fluchtpunkte.
In Trabzon wurde uns ein unverhofft glückliches Leben zuteil. Beschenkt durch die explosionsartige Entwicklung des türkischen Verlagswesens verbrachten wir jede freie Minute mit Lektüre. Wir hätten uns am liebsten jede Neuerscheinung besorgt, und was lasen wir nicht alles: die Standardwerke des Marxismus, Avantgarde-Romane, zeitgenössische Gedichte, theoretische Abhandlungen über Theater und Film, russische, englische, amerikanische und französische Klassiker … In der Türkei geriet etwas in Bewegung, und wir
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