Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
Spiegel an der Wand, und darüber waren zwei Ölgemälde angebracht. Auf einem davon war ein kränklich wirkender junger Mann in abgerissener Zivilkleidung abgebildet; allem Anschein nach würde er es wohl nicht mehr lange machen. Das zweite Bild hingegen zeigte einen verwegenen, kernigen Anatolier in blitzender Militärkluft, die an ihm saß wie angegossen. Mit seinem von keinerlei Bedenken getrübten Blick wirkte er wie ein Denkmal dümmlich-strotzender Gesundheit.
Unter dem einen Bild stand: »So bist du gekommen« und unter dem anderen: »So bist du jetzt«.
So weit die über die Augen rutschende Mütze es zuließ, sahen wir uns in dem Spiegel an, aber keiner von uns sah in den unpassenden, steifen Kleidern so aus, wie das zweite Bild es uns suggerieren wollte. Überdies schlotterten wir am ganzen Leib.
Die Kälte in Temeltepe war wirklich furchtbar. Wenn man morgens um fünf bei minus 30 Grad hinaus musste, fuhr einem der eiskalte Wind wie ein Messer durch den Körper. In den Stuben gab es für vielleicht 100 Männer nur einen Ofen, in dem billige Kohlen verbrannt wurden, die nach dem Anzünden sogleich zu den seltsamsten Formen verschrumpelten.
Wenn man abends seine durchnässten Wollstrümpfe am Brunnen wusch, hatte man keine Gelegenheit, sie zu trocknen, so dass einem nichts übrigblieb, als sie sich beim Schlafen auf die Brust zu legen, um sie mit der Körperwärme einigermaßen trocken zu bekommen. Wenn hin und wieder die Laken und Steppdecken gewaschen wurden, ging man nicht anders vor, denn wenn man die Sachen draußen aufhängte, froren sie steif und lösten sich bei der nächsten Benutzung einfach auf.
Während einer Nachtübung bei besonderer Kälte traten in meinem linken Bein seltsame Symptome auf. Es war so kalt, dass ich schon gar nicht mehr zwischen Kälte und Hitze unterscheiden konnte. Es kribbelte immer mehr in meinem Bein, und schließlich bildeten sich vereinzelt taube Stellen. Der Stabsarzt schickte mich damit ins Lazarett, wo ich zwölf Tage lang behandelt wurde. Mehr als der Zustand meines Beines interessierte mich die Aussicht auf das, was bei der Armee »Luftveränderung« genannt wurde, nämlich ein Aufenthalt in einem Sanatorium oder gar ein Heimaturlaub.
Ich hatte fast zwei Monate lang keinen einzigen Zivilisten zu Gesicht bekommen. Der Gedanke an Istanbul, an meine Frau und meine Tochter verblasste immer mehr, als stammte er aus einem nie gelebten Leben. Als hätte ich mir meine frühere Existenz nur eingebildet. In manchen Nächten brachte ich es nicht einmal mehr fertig, mir die Gesichter meiner Frau und meiner Tochter vorzustellen. Der Ort, an dem ich mich befand, war mit meiner bisherigen Welt so unvereinbar, dass er sogar meine Phantasie beschnitt. Und seltsamerweise galt das ausgerechnet für die Menschen, die mir am nächsten standen, während ich mit der Erinnerung an entfernte Bekannte weit weniger Schwierigkeiten hatte.
Tatsächlich wurde mir nach den zwölf Tagen eine »Luftveränderung« gewährt. Als ich leicht humpelnd das in der Stadt gelegene Lazarett verließ, senkte sich gerade die Nacht über Sivas. Durch die angehenden Straßenlaternen wirkte das Dunkel um mich herum eher noch düsterer. Alle Menschen eilten nach Hause in ihre warmen Wohnungen, und mich packte eine unsägliche Einsamkeit. Ich musste so schnell wie möglich weg aus der Stadt. Ich war schon in Zivil gekleidet, hatte aber kein Geld bei mir. Um mir welches zu besorgen, hätte ich hinauf in die Kaserne gemusst. Das aber brachte ich nicht fertig. Alles, aber nur ja nicht wieder hinauf nach Temeltepe.
Ich ging zum Bahnhof. Es hieß, dass abends ein Zug nach Istanbul abfuhr. Ich würde verrückt werden, sollte ich diesen Zug nicht besteigen. Da fiel mir meine Uhr ein. Ich nahm sie vom Handgelenk, und mit einer Stimme, die mich selber befremdete, fing ich an zu rufen: »Uhr zu verkaufen!«. Die Türkei war damals noch nicht von asiatischen Billiguhren überschwemmt, und so hatte eine Armbanduhr noch einen Wert.
Es dauerte nicht lange, bis ich sie verkauft hatte. Nachdem ich meine Fahrkarte erstanden hatte, blieb mir sogar noch Geld für eine Suppe übrig.
So stieg ich in den überfüllten Zug ein, in dem die Leute mit weinenden und verrotzten Kindern saßen und aus uraltem anatolischem Instinkt heraus mit allen Umsitzenden teilten, was sie in ihren Körben an Proviant dabeihatten. Da kein Sitzplatz mehr frei war, hockte ich mich im Korridor zwischen den anderen Reisenden auf den Boden. Wir
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