Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
die Schrift gerade uns in die Hände geriet, aber wir erkannten sofort ihre Brisanz und gedachten uns diese zunutze zu machen.
Den Sonntagsausgaben der Tageszeitungen mangelte es oft an Schlagzeilen, da die Politik ruhte. So fertigte ich von unserem Buch eine dreiseitige Zusammenfassung an und klapperte damit an einem Samstag sämtliche Zeitungsredaktionen ab. Als ich am nächsten Morgen ganz aufgeregt die Zeitungen besorgte, traute ich meinen Augen kaum: Das Buch war auf allen Titelseiten.
Am Montag kam es auf den Markt, und die erste Auflage von 5000 Stück war im Nu verkauft. Wir nötigten unsere Druckerei, sogleich eine zweite Auflage zu drucken. Über Nacht waren wir zum Tagesgespräch geworden. Die zweite, dritte und vierte Auflage schmolzen dahin wie Schnee in der Sonne. Der Ekim-Verlag war gerettet. Wir konnten in ein neues Büro umziehen und die Übersetzungsarbeit intensivieren. Außerdem mietete ich ganz in der Nähe des Büros eine schöne Wohnung an. In der gleichen Straße waren mehrere Zeitschriften und politische Organisationen angesiedelt, so dass wir uns im Zentrum der intellektuellen und politischen Aktivität befanden.
Zu den vielen Menschen, die ich damals kennenlernte, gehörte auch Vasıf Öngören, ein junger Theatermacher, der ein Stück mit dem Titel Wie kann Asiye gerettet werden? geschrieben hatte. Er glaubte sehr an dieses Stück, doch sein bisheriges Theater in Istanbul hatte sich geweigert, es aufzuführen.
Da unser Verlag so prächtig gedieh, kamen wir auf die Idee, das Projekt des jungen Mannes zu unterstützen. Wir mieteten ein Theater, und die Proben konnten beginnen. Die Hauptrollen wurden von der berühmten Sängerin Semiha Berksoy und ihrer Tochter Zeliha gespielt. Ich kümmerte mich um die Arrangements der von Asiye gesungenen Lieder. Einmal nahm mich Semiha Berksoy geheimnisvoll zur Seite und vertraute mir an, sie besitze Haare von Nâzım Hikmet. Solche linke Heiligenverehrung kam mir sonderbar vor.
Wir waren nun ständig mit Vasıf Öngören zusammen und sangen oft in Kneipen bis spät in die Nacht hinein.
V asıf Öngören war während seiner Ostberliner Jahre zum entschiedenen Brechtianer geworden. Er erzählte jedermann vom epischen Theater und wandte bei den Proben diverse Verfremdungseffekte an. Stanislawskij mit seinem Realismus wurde uns damit zum roten Tuch. Der arme Mann hatte in unseren Augen am Welttheater und damit an der ganzen Menschheit Verrat begangen.
Unsere damaligen Werturteile waren von unerbittlicher Härte. Wir sahen die Welt als eine Kette von Gewissheiten an und zweifelten nicht im Geringsten am Determinismus. Unter uns herrschte geradezu ein Wettstreit darüber, wer sich am entschiedensten gebärdete. Dass ich grundsätzlich viel eher von toleranter – und entschlussloser – Natur bin, machte sich eine gewisse Zeit überhaupt nicht mehr bemerkbar. Ich entwickelte mich zu einem rechthaberischen Eiferer. Wir hegten nicht die geringsten Zweifel an unserer Sache, und was von unserer Linie abwich, galt uns als bürgerliches Abweichlertum. Mit intellektueller Redlichkeit hatte das damals verbreitete kategorische Auftreten natürlich nichts zu tun, aber das merkten wir nicht.
Nach einer aufregenden Probenzeit wurde das Stück schließlich uraufgeführt. Es wurde zu einem rauschenden Erfolg. Wie kann Asiye gerettet werden? wurde lange vor ausverkauftem Haus gespielt und brachte ziemlich viel Geld ein. In den Zeitungen spielten die Kritiker oft auf den Titel an und formulierten Überschriften in der Art von »Wie kann die Türkei gerettet werden?«.
Wir waren alle sehr glücklich, aber es kam doch auch zu Misshelligkeiten. Die türkische Linke führte damals eine ihrer sinnfreien Debatten, und während die Arbeiterpartei die Ansicht vertrat, dass in der Türkei »der vorherrschende Widerspruch der zwischen Kapitalismus und Sozialismus« sei, behaupteten ihre Widersacher von der Nationalen Demokratischen Revolution, vorrangig müsse die Türkei »vom Imperialismus befreit werden«.
Das Schlagwort der ersten Gruppe lautete somit »Sozialismus!«, das der zweiten Gruppe »Unabhängigkeit!«, und es kam immer wieder vor, dass die beiden Gruppen aneinandergerieten und sich nicht nur ihre Parolen um die Ohren schlugen, sondern auch Handfesteres. Ich wurde einmal Zeuge, wie ein alter Arbeiter den Streitenden flehend zurief, die Türkei könne doch ruhig sozialistisch und unabhängig zugleich werden, und sich damit einen Faustschlag einhandelte.
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