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Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Titel: Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zülfü Livaneli
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Vasıf, die sich noch immer hysterisch gebärdende Suna nach draußen zu schaffen. Sie wehrte sich mit Händen und Füßen und beschimpfte Vasıf in wüstester Art und Weise. Um sie zu beruhigen, ließ Vasıf alles über sich ergehen und stimmte ihr sogar immer wieder zu: »Ja, stimmt, genau so einer bin ich!« Schließlich hatte er sie draußen, wo schon der Tag zu grauen begann. Er ließ sie stehen und wandte sich um, aber da streifte sie einen ihrer hochhackigen Schuhe ab und drosch damit auf seinen Hinterkopf ein, bis das Blut herablief. Da drehte Vasıf sich um und versetzte ihr einen solchen Schlag, dass die zierliche Suna zu Boden flog und dort liegen blieb.
    Wir versammelten schließlich unsere Leute und zogen ab in Vasıfs Wohnung. Unterwegs kam uns ein amerikanischer Gefreiter entgegen, wohl auch auf dem Nachhauseweg von einer Silvesterfeier. Einer von uns brüllte ihm ein wütendes »Go home!« zu, doch auf so viel Antiimperialismus zu so früher Stunde konnte der Arme sich wohl kaum einen Reim machen.
    Wir brachten Vasıf dann doch lieber in ein Krankenhaus, wo seine Kopfwunde genäht wurde. Als die Ärzte erfuhren, dass diese von einem Stöckelschuh herrührte, verpassten sie ihm vorsichtshalber eine Tetanusspritze.
    Zu Ende ging die Silvesternacht mit einem ausgelassenen Frühstück.

 
    W   enn ich an meine Jahre in Ankara zurückdenke, merke ich erst, wie viele Menschen ich auf die eine oder andere Weise verloren habe.
    Vasıf war eine Zeitlang inhaftiert und zog später erst nach West-Berlin und dann nach Amsterdam. Wir sahen uns erst nach Jahren wieder, als Ülker und ich in Paris lebten. Obwohl wir uns früher so nahe gewesen waren, verlief unsere Begegnung in seltsamer Befangenheit. Wir saßen zunächst in unserer Wohnung in Montparnasse, dann tranken wir in einem italienischen Restaurant Wein. Nachdem wir uns voneinander verabschiedet hatten, blieben Ülker und ich schmerzlich berührt zurück. Wir sollten Vasıf nie wiedersehen. Später erfuhren wir, dass er in Amsterdam gestorben war, an Herzversagen, mitten beim Frühstück. Damals in Ankara hatte er gesagt, älter als 42 brauche er sowieso nicht zu werden, und er wurde dann auch kaum älter. Er war einer der intelligentesten Menschen, die ich je kennengelernt habe.
    Aus unserem damaligen Umfeld in Ankara gingen viele ins Exil, nicht wenige kamen gewaltsam ums Leben. Akay Sayılır, mit dem ich den Verlag gegründet hatte, galt nach mehreren Gefängnisaufenthalten lange Zeit als flüchtig, konnte aber letztendlich als Anwalt arbeiten. Der Fotograf Abdi Yazgan und der Philosophiestudent Alp Öktem flohen nach Schweden. Der Verleger İlhan Erdost, dessen verschmitztes Lächeln ich nie vergessen werde, wurde im Gefängnis zu Tode geprügelt. Und Mahir Çayan, der Gründer der Türkischen Volksbefreiungsfront, starb bei einem Schusswechsel mit einer Spezialeinheit der Armee.
    Er war ein gutaussehender junger Mann mit feinen Gesichtszügen, der fortwährend die Nase hochzog und daher stets mit einem Taschentuch in der Hand herumlief. Seine Nasenscheidewand war verkrümmt, und eigentlich hätte er operiert werden müssen.
    »Lass das doch machen«, sagte ich, »dann bist du die Sache los.«
    Lächelnd sah er mich an. »Du hast leicht reden. Sich einfach so unters Messer legen? Weißt du eigentlich, wie weh das tut?«
    Diese Worte fielen mir wieder ein, als ich später erfuhr, dass sein Körper in Kızıldere von Schüssen zerfetzt worden war. Er hatte sich den Soldaten nicht ergeben wollen.
    In meinem Film Nebel ließ ich jenen Dialog von damals zwischen dem Richter und dem flüchtigen jungen Mann stattfinden, den er im Auto mitnimmt. Bei einer Vorführung des Films in Deutschland wollte danach eine Gruppe junger Türken mit mir sprechen und warf mir vor, mit der Szene die revolutionäre Jugend beleidigt zu haben, denn nie und nimmer könne ein Revolutionär so wehleidig sein. Für sie war die Szene aus der Luft gegriffen.
    »Für mich ist sie wahr«, sagte ich. »Der junge Kerl ist auch nur ein Mensch.«
    Dass die Szene auf Mahir zurückging, erzählte ich ihnen nicht; ich weiß selbst nicht warum. Dabei hatte ich beim Schreiben an niemand anderen als an ihn und seine Genossen gedacht. Durch ihren frühen Tod sind sie für immer junge Menschen geblieben; ihre Gesichter sind nach wie vor straff, und sie haben weder Bauch noch Tränensäcke. Anna Seghers hatte schon recht mit ihrem Buchtitel: Die Toten bleiben jung. Aber die Türken, die mich da

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