Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
aus dem Ausland bestellt oder geschickt bekommen hatten. Vor allem eine in Saffianleder gebundene Reihe mit Gesamtwerken lag uns sehr am Herzen. Es befanden sich Tausende von Bänden in dem Lager, darunter auch solche, die mir bereits Schwierigkeiten mit der Staatsanwaltschaft eingebracht hatten.
Wir setzen uns zusammen und beratschlagten. Nach der damals gängigen Sprachregelung waren die Bücher lediglich in unserer Obhut und gehörten eigentlich der türkischen Arbeiterklasse. Unsere Aufgabe war es, sie für künftige Generationen an einem sicheren Ort aufzubewahren. Andererseits würde bald Haus für Haus durchkämmt werden; an einen Verbleib der Bücher in dem Lager war also nicht zu denken.
Nach langem Nachdenken kam uns eine blendende Idee. Wir würden jeweils drei bis vier Bücher in Plastikfolie einschlagen und die so entstandenen Pakete von einem befreundeten Bauunternehmer mit einem Lastwagen in ein abgelegenes Viertel bringen lassen und in zuvor ausgehobenen Löchern vergraben. Durch den Plastikschutz würden sie in Sicherheit sein. Um das Vergraben wollte sich der bereits erwähnte Osman kümmern.
So begannen wir im Lager mit dem Verpacken. Wir arbeiteten Tag und Nacht, um nur ja vor der Hausdurchsuchung alles vergraben zu haben. Am Tag vor der Durchsuchung luden wir die Bücher auf den Lastwagen und sahen diesen dann erleichtert davonfahren. Wir hatten das Unsere getan.
Ein paar Tage danach wurde ich von Beamten abgeholt und in den siebten Stock des Polizeipräsidiums verbracht, in die berühmt-berüchtigte Abteilung 1. Als ich aus dem Aufzug trat, ließ mich der Anblick beinahe zusammenbrechen. Den ganzen langen Korridor entlang waren links und recht bis zur Decke hinauf Bücher aufgeschichtet. Unser gesamtes Lager war wiedererstanden. Es lief mir eiskalt den Rücken hinunter.
Ohne verhört zu werden, wurde ich an jenem Tag im Kellergeschoss des Präsidiums in eine fürchterlich nach Urin stinkende Zelle gesperrt. Unter dem Gewimmer von Leuten, die von der Bastonade her grauenhaft aufgeschwollene Fußsohlen hatten, schob sich jeder einen Fetzen Zeitung oder Karton unter, denn die Zelle enthielt keinerlei Mobiliar, und der Boden war aus Beton. Auf engstem Raum waren wir schon über zwanzig Leute, doch nach Mitternacht wurde noch eine Gruppe von etwa einem Dutzend lautstark protestierender Homosexueller in die Zelle gestopft.
Ich war zum ersten Mal in Untersuchungshaft und hatte das Gefühl, in einer unwirklichen Situation zu sein. In jenen kritischen Tagen den Sicherheitskräften in die Hände zu fallen war ein Albtraum, und ich war mitten darin. Beim Gedanken an die Bücher dort oben wurde mir ganz anders. In einer Zeit, in der sogar Bücher über die Französische Revolution verboten waren, ein harmloses Werk von Babeuf konfisziert wurde, die Larousse-Bände wegen der Lautähnlichkeit als russisch galten und überhaupt Bücher als höchst gefährliche Waffe angesehen wurden, musste jene Anhäufung von Marx- und Lenin-Werken, von kubanischen Granma -Zeitungen und sowjetischen und chinesischen Büchern einen ungeheuren Schock auslösen. Hin und wieder traten Polizisten an die Tür heran, und wenn der Wächter durch das Zellenfenster auf mich deutete, sagten sie kopfschüttelnd: »Wie hat er das bloß alles über die Grenze geschafft?«
W egen des Wochenendes ruhte im Polizeipräsidium die Arbeit, und so wurde auch meine Familie nicht benachrichtigt. So wirr und furchtbar war jene Zeit, dass selbst mein Vater als Senatsvorsitzender des Kassationshofs sich umsonst bemühte, mich zu finden.
Am Montag wurde ich in den siebten Stock zum Verhör gebracht, das von einem schnauzbärtigen Kommissar mit rundlicher Figur und dunklem Teint durchgeführt wurde. Es war dies meine erste Begegnung mit Kommissar Fevzi, mit dem mein Bruder Asım und ich später noch viel zu tun haben sollten. Er fragte mich nach den Büchern, und ich sagte, ich wisse von nichts. In jenen Putschtagen, in denen das Recht aufgehoben war, vermochte ich nicht abzuschätzen, inwieweit ein solches Bücherlager mir schaden konnte. Falls sie die Bücher alle unter die Lupe nahmen und jedes einzelne herausfischten, das illegal über die Grenze gelangt war, musste ich womöglich bis ans Lebensende ins Gefängnis.
So behauptete ich vorsichtshalber, die Bücher noch nie gesehen zu haben. Kommissar Fevzi hakte weiter nach und drohte mir auch mit Folter, aber ich blieb standhaft.
»Na schön«, sagte der Kommissar schließlich. »Dann
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