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Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Titel: Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zülfü Livaneli
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stellten mir ebenfalls einen Aluminiumteller hin und drückten mir einen Löffel in die Hand.
    Was hatten bloß so viele Menschen vom Schwarzen Meer in diesem Gefängnis zu suchen, obwohl doch die meisten von ihnen mit Politik nichts zu tun hatten?

 
    D   ie Militärs regierten mittlerweile ohne jegliche Kontrolle und ließen alle Teile der Bevölkerung gnadenlos ihre Macht spüren. Unmittelbar nach dem Putsch hatten sie sich noch zurückhaltend gegeben, doch als sich ihnen niemand entgegenstellte, fühlten sie sich zu irrwitzigen Strafaktionen ermutigt.
    Während wir im Gefängnis saßen, ohne zu wissen warum, machten wir die interessantesten Bekanntschaften. Eine davon war der Rechtsprofessor Bülent Nuri Esen, mit dessen Söhnen Ömer und Selim ich einst befreundet gewesen war. Der Mann war eine Autorität und hatte Ministerpräsident Menderes verteidigt. Dass jetzt schon solche bedeutenden Persönlichkeiten inhaftiert wurden, war ein neuerliches Zeichen für die Verrücktheit des Militärregimes.
    An Professor Esens Auftritt in unserer Zelle kann ich mich noch gut erinnern. Mit seinem Kaschmirmantel, seinem sorgfältig geknüpften Schal, dem akkuraten Scheitel und den in der Türkei seit jeher als Symbol für einen »großen Mann« geltenden buschigen Augenbrauen glich er eher einem hochgestellten Justizbeamten auf Inspektionsbesuch als einem Angeklagten.
    Als die eiserne Tür aufging und der Professor von einem Unteroffizier und zwei Gefreiten hereingeführt wurde, sah er sich kurz um und rief dann mit donnernder Stimme: »Wie sieht es denn hier aus? Was soll dieser Dreck am Boden?«
    Der Befehlston ließ die Soldaten zusammenfahren. Unwillkürlich legten sie die Hände an die Hosennaht.
    »Was dieser Dreck soll, frage ich! Ich will, dass hier sofort geputzt wird. Alles voller Zigarettenstummel!«
    Die Soldaten deuteten vage auf uns. »Die werfen das immer hin«, sagten sie. Und dann holten sie doch tatsächlich einen Eimer Wasser und wischten den Betonboden am Zelleneingang sauber.
    Der Professor wandte sich währenddessen uns zu. »Sagt mal, schämt ihr euch nicht, die Zigarettenstummel auf den Boden zu werfen und diesen Ort so zu verdrecken, an dem wir gemeinsam leben müssen?«
    Zaghaft wandte einer ein: »Aber wir haben doch keinen Aschenbecher. Wo sollen wir denn hin mit den Stummeln?«
    »Ich dulde hier keine Ausreden«, raunzte der Professor. »Man findet immer eine Lösung. Ihr habt doch das Stanniolpapier aus euren Zigarettenschachteln, daraus könnt ihr wunderbar einen Aschenbecher machen. Also los, her mit dem Stanniol!«
    Auf diesen Befehl hin kramte in der ganzen Zelle jeder nach seiner Zigarettenschachtel, und eifrig bastelten wir jeweils aus mehren Lagen Stanniolpapier einen Aschenbecher zusammen. Ein paar von uns präsentierten das Ergebnis ihrer Bemühungen dem Professor.
    »Brav! Sehr ihr, geht doch!«, lobte er uns wie Schuljungen.
    Ab hier allerdings spielt mir mein Gedächtnis einen Streich, denn ich weiß nicht mehr, wie lange der Professor in unserer Zelle war und was er dort sonst noch machte. Er dürfte aber nicht lange geblieben sein.
    Wir hatten auch den Komponisten Muammer Sun unter uns, mit dem ich mich lange über Musik und Literatur unterhielt. Ansonsten aber gab es nichts zu tun, und die Zeit wollte nicht vergehen. Wir wussten immer noch nicht, was man uns vorwarf, und Verhöre fanden keine statt.
    Zu essen gab es vor allem Linsen und Kichererbsen, und wir verbrachten unsere Zeit damit, zu quatschen und jede Zeitung, die wir in die Hand bekamen, bis zur letzten Anzeige zu lesen.
    Abends gab es ein Unterhaltungsprogramm. An der Schmalseite der Zelle stieg jemand auf ein Stockbett und erzählte von dieser Bühne herab Witze, in denen es meist um einen Schwarzmeerbewohner und einen Kurden ging, wobei der Kurde natürlich den Kürzeren zog. Obwohl Abend für Abend die gleichen Witze gerissen wurden, hielt das die Leute nicht davon ab, jedes Mal wieder mit angespannten Gesichtern zu lauschen und bei der Pointe loszubrüllen.
    Der alte Krämer wurde immer schwächer und kam bald gar nicht mehr aus dem Bett heraus. Dass man ihn aus seinem Laden gezerrt und ohne jede Begründung in ein Militärgefängnis gesteckt hatte, sollte ihn schließlich das Leben kosten. Kurz nach seiner Entlassung verstarb er.
    Eines Nachts wurde ich von dem Lehrer İsmail aufgeweckt. »Bleib ganz ruhig, es gibt keinen Grund zur Panik«, flüsterte er mir zu. Das war gut gemeint, aber ich erschrak erst recht.

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