Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Titel: Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zülfü Livaneli
Vom Netzwerk:
abends ein Glas Rakı zum Essen, spielte Bridge und verfügte über ein ausgezeichnetes Urteilsvermögen. Kurzum, er war ein vornehmer Mensch. Ich habe ihn mein Leben lang bewundert, und er ist stets mein Held geblieben. Dass dieser Held nun seinen Sohn im Gefängnis besuchen musste, tat mir und auch meinen Freunden weh.
    Nach etwas mehr als einem Monat kam ich wieder frei. Wir wollten eigentlich unsere Arbeit fortführen, aber den Verlag weiterzuführen, war uns so gut wie unmöglich gemacht worden. Der Staat bedrängte uns mit aller Macht und ließ uns keine Luft zum Atmen. Ich musste also stattdessen so bald wie möglich den mit Sayan Plak abgeschlossenen Vertrag erfüllen und die Schallplatte einspielen. Intensiv arbeitete ich an den Stücken und an neuen Kompositionen und ging damit in das Studio in Istanbul. Wenn ich an jene ersten Tage dort zurückdenke, erfüllt mich das noch heute mit Schmerz.
    Seit dem Gefängnisaufenthalt war mein Selbstvertrauen erschüttert, und ich spürte einen ständigen Druck. Nachts schreckte ich immer wieder aus dem Schlaf, und überhaupt hatte ich andauernd das vage Gefühl, meiner Familie und mir werde etwas zustoßen. Unter großen Mühen hatten wir aus dem Nichts heraus einen Verlag erschaffen, hatten ihn zum Erfolg gebracht, und nun war das alles dahin. Ohne irgendetwas verbrochen zu haben und nur weil wir uns mit Kunst und Kultur beschäftigten, waren wir zur Zielscheibe von Polizei und Armee geworden.
    Dieser Druck bewirkte schließlich, dass mir im Studio die Stimme wegblieb. Vor dem auf mich gerichteten Mikrofon fühlte ich mich wie ein Angeklagter. Aus meiner Kehle kam nichts als ein Röcheln. Nicht einmal weiter sprechen konnte ich.
    Alle redeten mir gut zu, aber vergebens. Ein befreundeter Arzt untersuchte mich und diagnostizierte ein rein psychologisches Problem, was ich aber von mir wies, wie jeder mit so einem Problem. Irgendetwas stimmte mit meinem Hals nicht, warum sah das nur keiner ein?
    Mit Müh und Not gelang es mir schließlich, vier Stücke einzuspielen. Es fiel eine Last von mir ab. Falls jedoch die Platte unter meinem Namen herauskommen würde, konnte ich wieder unter Druck gesetzt werden. »Wir verpassen dir eben einen anderen Namen«, schlug Yaşar Kemal vor. »Als Zülfü Livaneli kannst du sowieso nicht berühmt werden.«
    Gemeinsam kamen wir auf Ozanoğlu, was so viel heißt wie »Sohn des Volksdichters«. Unter diesem Namen wurden meine beiden ersten Platten bei Sayan Plak herausgebracht und verschwanden bald schon wieder in der Versenkung.
    Im Frühjahr 1972 mehrten sich die Anzeichen, dass Deniz Gezmiş und seine Genossen tatsächlich hingerichtet werden sollten, wenn auch noch immer keiner so richtig daran glaubte. Ich sang damals meinen Freunden die Traueroden vor, die ich zusammengetragen beziehungsweise selbst geschrieben hatte, denn solange ich nicht in ein Studio musste, hatte ich mit der Stimme keine Probleme. In unserer hübschen Wohnung in Gaziosmanpaşa traf abends manchmal ein größerer Freundeskreis zusammen. Unter anderem kamen Erdal Öz, Emil Galip Sandalcı, Abdi, İlhan, Alp und manchmal auch der Journalist Uğur Mumcu. Als der Studentenführer und Revolutionär Sinan Cemgil und seine Genossen in den Nurhak-Bergen getötet wurden, schrieb ich auf sie ebenfalls eine Trauerode und trug sie meinen Freunden vor.
    Zu jenen zählte auch Mükerrem Erdoğan, der Verteidiger von Deniz Gezmiş. Über ihn lernten wir einen jungen Mann kennen, der zusammen mit Deniz Gezmiş inhaftiert gewesen war und uns berichtete, Deniz und seine Leute seien sehr zuversichtlich und befürchteten keineswegs, hingerichtet zu werden.
    Dann ging es Schlag auf Schlag. Mahir Çayan und seine Kameraden wurden erschossen, ein Flugzeug von Turkish Airlines wurde nach Sofia entführt und auf den Gendarmiekommandanten Eken ein Attentat verübt. Am 6. Mai 1972 schließlich wurden Deniz Gezmiş, Yusuf Aslan und Hüseyin İnan erhängt.
    Mükerrem Erdoğan kam an dem Tag mit verweinten Augen zu uns. In der Nacht sei er informiert worden, er solle sich zusammen mit seinem Verteidigerkollegen im Gefängnis einfinden und der Hinrichtung beiwohnen. Er prägte sich alles genau ein und schrieb es unmittelbar danach auf. Was er erzählte, war unerträglich. Die drei Studenten, die niemanden getötet hatten, waren von den Barbaren ermordet worden.
    Um Mitternacht waren sie in die Zellen der Studenten eingedrungen und hatten sie gefesselt. Deniz Gezmiş rief noch: »Lasst mich doch

Weitere Kostenlose Bücher