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Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Titel: Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zülfü Livaneli
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uns verfasst, sondern uns als Mitglieder einer politischen Organisation ausgegeben hatte, nämlich der »Zelle der zitternden Sardelle«. Was sich anhörte wie Satire, war von Regime und Geheimdienst ernst genommen worden. Warum es ausgerechnet eine Sardelle sein musste, und noch dazu eine zitternde, habe ich nie in Erfahrung gebracht. Das Ganze hätte ein Witz sein können, aber wir alle hatten sehr darunter zu leiden, und bei manch einem hallte die Erschütterung lange nach.
    Am eindringlichsten ist mir aus jener Zeit der Besuch meines Vaters in Erinnerung. Wir durften uns draußen im Hof unterhalten, durch Stacheldraht voneinander getrennt. Mein Vater hatte mir Wäsche und Esspakete gebracht, die von der Verwaltung erst noch durchsucht werden mussten. Sein Leben lang hatte mein Vater Plädoyers gehalten, Anklageschriften verfasst und Gefängnisaufstände niedergeschlagen, und nun stand er hinter Stacheldraht seinem eigenen Sohn gegenüber.
    Und er sagte dann etwas, was ich nie vergessen werde: »Junge, du hast dir nichts zuschulden kommen lassen. Du sitzt hier nur wegen deiner Meinung ein, also mach dir nichts draus. Du hast über die Familie keine Schande gebracht.«
    Was mir das bedeutete, kann nur ermessen, wer diese Zeit miterlebt hat. Unter dem Einfluss der Regimepropaganda wurde überall nach »Stadträubern« gesucht, wie es damals hieß, und viele Bürger eiferten danach, als »verehrte Informanten« tätig zu werden, wie diese allen Ernstes von der Regierung genannt wurden. Nachbarn und Verwandte zeigten sich gegenseitig an, und in solch einem Klima waren die Worte meines Vaters wie Balsam für mich.
    Als er wieder weg war, zog ich mich in der Zelle in ein Eckchen zurück und dachte lange über mein Verhältnis zu ihm nach. Da ich schon als kleiner Junge zu meiner Großmutter gekommen und danach in Ankara zur Schule gegangen war, hatte ich mit meinem Vater nicht so lange zusammengelebt wie meine Geschwister. Während der Schulzeit in Ankara sehnte ich mich andauernd nach ihm. Wenn ich mir einbildete, von meinen Onkeln ungerecht behandelt worden zu sein, flüchtete ich mich in Phantasien, in denen mein Vater als Retter nahte und meine Onkel bestrafte.
    Als mein Vater gerade einmal in Ankara war, nahm er mich an einem Samstag ins Kino mit. Zuerst bekam ich in einer von russischen Exilantinnen geführten Konditorei wunderbar duftende Kuchenstücke spendiert, deren Butter durch die Papiertüte drang. Dann gingen wir in eine Filmvorführung. Gespielt wurde eine amerikanische Musical-Filmkomödie mit dem Titel Eine Braut für sieben Brüder . Es muss einer der ersten Farbfilme gewesen sein, denn ich kann mich noch gut an die Farbenpracht erinnern, an die Aufnahmen im Schnee und an die fröhlichen Lieder, die beim Holzfällen gesungen wurden.
    Als mein Vater nach Ankara versetzt wurde, zogen wir in der Nähe des Kızılay-Platzes in eine Dachgeschosswohnung, die wir nach der gleichnamigen Gefängnisinsel »Yassıada« nannten, »Flache Insel«. Dort wohnte ich nun mit meinen Eltern, meinen Geschwistern und dem Pflegekind Huriye zusammen. Später zogen wir in das schöne zweistöckige Haus im Viertel Bahçelievler, aber da mein Vater mittlerweile stets auf Inspektionsreisen unterwegs war, sah ich ihn wieder nicht oft.
    Als er schließlich am Kassationshof tätig war, wohnte er dauerhaft in Ankara, und wir konnten abends beim Essen zusammensitzen und in größter Freiheit über alles reden. Er führte oft historische Beispiele an, belehrte uns über so manches, trug Gedichte vor und gab Anekdoten zum Besten. Unser Abendbrottisch glich richtiggehend einer Schule. Auch unsere Osmanischkenntnisse wurden durch die Erzählungen meines Vaters gefestigt. Mein Vater gab mir das erste Buch von Hemingway, doch wie bereits berichtet, versuchte er mich dann auch wieder zu bremsen, als ich ihm übers Ziel hinauszuschießen schien.
    Manche Menschen brauchen sich um Höflichkeit nicht zu bemühen, da sie gar nicht anders können. So jemand war mein Vater. Schon auf den Fotos aus seinen Jugendjahren sieht man ihm das an. Sorgfältig gekleidet und gekämmt steht er da und sieht einen mit einem feinsinnigen, leicht melancholischen Lächeln an. Er stach aus seiner Umgebung stets heraus, und seine Freunde sollten in fortgeschrittenem Alter über ihn sagen: »Mustafa ist einfach was Besonderes und immer schon gewesen.«
    Er war ein Prinzipienmensch, aß wenig, hielt stets sein Gewicht, hatte ein Faible für schicke Hosenträger, trank

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