Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
wenigstens den zweiten Schuh anziehen!« Bei den Henkern fehlte es gänzlich an jener Ehrfurcht, die Menschen gegenüber dem Tod normalerweise an den Tag legen. Der Vorsitzende des Militärgerichts, der – obwohl selbst nicht einmal Jurist – die drei zum Tode verurteilt hatte, zog während der Hinrichtung grinsend an seiner Zigarette.
Ich hatte eine ungeheure Abscheu vor diesen Menschen. Dieses Land, das sich so unbarmherzig zeigte, war mir fremd geworden, war nicht mehr meine geliebte Türkei. Jeder, den ich damals traf, weinte. Die Traueroden, die ich später auf einer Platte sang, waren von der Erschütterung jener Tag geprägt.
Von der Entführung des Flugzeugs nach Sofia erfuhr ich, als ich mit Akay Sayılır in Istanbul in einem Sammeltaxi saß. Wir hörten die Meldung im Autoradio und fragten uns noch, wer sich wohl so eine Verrücktheit ausgedacht hatte. Da schwante uns noch nicht, dass zu den Verdächtigen bald wir selber zählen würden.
Mir war in jenen unglückseligen Tagen ständig so, als würde nach mir gefahndet. In meiner Umgebung taten sich merkwürdige Dinge, und ich war mir sicher, dass etwas passieren würde. Mein Gefühl war so deutlich, dass ich mich nicht täuschen konnte. So beschlossen Ülker und ich, noch am gleichen Tag zusammen mit Aylin zu meiner Schwiegermutter nach Istanbul zu fahren. Wir ließen alles nach einem gewöhnlichen Familienbesuch aussehen und wollten dann erst einmal abwarten.
Ein paar Tage darauf wurde in den Abendnachrichten gemeldet, bei einer großangelegten Operation seien zahlreiche »Stadträuber« gefasst worden. Daraufhin wurde eine ellenlange Liste verlesen, die uns blass und blasser werden ließ. Unser ganzes Umfeld war verhaftet worden: Erdal Öz, Uğur Mumcu, Emil Galip Sandalcı, Abdi, Akay, İlhan und noch eine ganze Reihe anderer.
Plötzlich hörte ich meinen eigenen Namen.
Ich begriff überhaupt nichts mehr. Da saß ich also im Istanbuler Stadtteil Nişantaşı und hörte Radio, und das Regime gab bekannt, ich sei gefasst worden. Wir waren völlig bestürzt. Der Rest der Familie war in der Küche mit Kochen beschäftigt und hatte nichts mitbekommen. Wir sagten, wir würden kurz ein wenig spazieren gehen, und dann liefen wir draußen die diesige, nach Kohlenstaub riechende Halaskârgazi-Straße auf und ab und überlegten fieberhaft, was wir tun sollten.
V erstört kehrten wir in die Wohnung zurück. Dort wussten sie inzwischen schon Bescheid, da Verwandte angerufen hatten. Meine Schwiegermutter hatte einen nach dem anderen darüber aufgeklärt, dass irgendein Missverständnis vorlag.
Wir redeten bis tief in die Nacht hinein und kamen dennoch zu keinem Ergebnis. Am Morgen machten wir uns auf zu Yaşar Kemal und Thilda; vielleicht wussten sie ja Rat. Zumindest waren sie Menschen, mit denen wir die Sache ausführlich besprechen konnten, doch leider waren sie nicht zu Hause. Wir hatten auf dem Weg zu ihnen mehrfach umsteigen müssen und hatten sie verpasst.
Darauf stiegen wir in den erstbesten Bus ein, ohne überhaupt zu wissen, wohin er fuhr. Er ließ uns an der Endstation heraus, am Bahnhof Sirkeci, und kaum waren wir ausgestiegen, sah ich Yaşar Kemal vorbeikommen. Ich lief hin und tippte ihm auf die Schulter. Er drehte sich um und sah mich voller Sorge an: »Du bist also geflohen.«
»Nein, gar nicht verhaftet worden.«
Wir suchten uns einen Ort, um alles in Ruhe zu besprechen, und gingen in den Gülhane-Park unterhalb des Topkapı-Serails. Es war ein sonniger Maitag, und Hunderte von Menschen saßen an den Tischen und tranken Tee. Wir fanden einen freien Tisch, an dem wir ungestört reden konnten. Yaşar Kemal berichtete, wie betroffen sie gewesen seien; Thilda habe geweint.
»Es steht schlimm«, sagte Yaşar Kemal. »Du giltst jetzt praktisch als Flüchtiger. Wenn sie dich irgendwo erschießen, kommen sie ungeschoren davon.« War das vielleicht der Zweck des Ganzen?
An den Bäumen waren Lautsprecher aufgehängt, aus denen Radiomusik spielte. Als die Nachrichten kamen, wurde wieder die gleiche Liste verlesen. Der Name Ömer Zülfü Livaneli tönte durch den ganzen Park, und ich traute mich nicht aufzusehen, weil ich das Gefühl hatte, von jedermann gemustert zu werden. Da beschloss ich, mich zu stellen.
Am Abend stieg ich am Bahnhof Haydarpaşa in den Zug nach Ankara. Ich verbrachte die Nacht in steter Angst davor, in eine der häufigen Militärkontrollen zu geraten. Der Zug fuhr zu sehr früher Stunde in den Bahnhof von Ankara ein.
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