Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
Von einem Münztelefon rief ich meinen Vater an. »Hallo«, sagte ich, »wie geht es dir?«
Üblicherweise siezte ich meinen Vater, aber wegen der Gefahr, dass sein Telefon abgehört wurde, schlüpfte ich lieber in die Rolle eines Freundes von ihm, denn er würde mich sowieso an der Stimme erkennen. Ihn zu duzen, fiel mir aber unglaublich schwer.
Tatsächlich begriff mein Vater auf Anhieb und sagte: »Ach, hallo! Sollen wir uns treffen? Wo bist du denn?«
»Ich warte am Bahnhof auf dich.«
Nach einer Weile holten mein Vater und mein Bruder Asım mich ab. Wir stiegen in den alten Opel und fuhren durch das noch menschenleere Ankara. Auch mein Vater meinte, ich solle mich am besten stellen, um nicht als Flüchtiger zu gelten. Ich gab ihm zwar Recht, aber wieder einmal wusste ich nicht, was mir eigentlich vorgeworfen wurde. Da mittlerweile systematisch gefoltert wurde, gestand ich meinem Vater, mich vor einem Verhör durch die Kontrgerilla zu fürchten.
Mein Vater hatte im Leben schon vieles mitgemacht, aber was er in jenem Augenblick zu durchleiden hatte, wünsche ich meinem ärgsten Feind nicht. Für ihn, der an den Staat glaubte und ihm seit Jahren diente, war Folter plötzlich kein abstrakter Begriff mehr, sondern etwas höchst Reelles. Ihr mögliches Opfer war nämlich sein eigener Sohn, den er dem Staat soeben auslieferte. Zeit seines Lebens war er der Überzeugung gewesen, der Staat könne keine Fehler begehen, und nun dies. In seinem Opel litt er wie in einer griechischen Tragödie. Als er von ferne eine Straßensperre der Polizei sah, riss er das Steuer herum und fuhr lieber einen Umweg. Ausgerechnet er, der seit jeher als Staatsanwalt der Polizei Anweisungen gab, lief nun vor ihr davon.
Wenige Tage zuvor waren abends Polizisten und Soldaten in mein Elternhaus gekommen und hatten Asım abgeholt. Sie fragten ihn immer wieder, wo ich sei, und er beteuerte, es nicht zu wissen. Schließlich brachten sie ihn zu unserem Haus in Gaziosmanpaşa und ließen ihn vom Garten aus nach mir rufen. Sie dachten, ich hätte mich zu Hause versteckt, aber meinem Bruder würde ich aufmachen. Als auch das nicht fruchtete, waren sie schon drauf und dran, die Tür aufzubrechen. Auf das Eingreifen eines Oberst hin kam mein Bruder schließlich davon.
Meinem Vater blieb nun nichts anderes übrig, als tatsächlich ins Hauptquartier der Armee zu fahren. Wir gingen hinein, und während uns vom Kommandanten Tee serviert wurde, erklärte mein Vater die Situation und fügte hinzu, es müsse sich irgendwie um ein Missverständnis handeln. Der Kommandant sagte, wir sollten uns nur ja keine Sorgen machen; der Fall würde sich bestimmt gleich aufklären. Verschämt fragte mein Vater: »Es wird doch niemand schlecht behandelt hier, oder?«
»Aber ich bitte Sie«, wehrte der Kommandant ab. »Selbstverständlich nicht. Alles Verleumdungen.«
Draußen verabschiedete ich mich von meinem Vater und von Asım und wurde dann mit einem Jeep wieder in das mir schon bekannte Gefängnis gebracht. Der mich begleitende Feldwebel sagte unterwegs: »Heute ist wieder ein Arbeiterführer verhaftet worden. Also wenn ihr unschuldig seid, dann sollt ihr so schnell wie möglich wieder hier rauskommen, aber wenn ihr gegen den Staat und das Volk was gemacht habt, könnt ihr beim Verhör ruhig draufgehen.«
Mit diesen guten Wünschen wurde ich im Gefängnis abgeliefert. Als ich in die Zelle verbracht wurde, war es Mittag. Es war eine kleinere Zelle als beim letzten Mal, und sie war leer. Von draußen hörte ich Stimmen. Durch das vergitterte Fensterchen sah ich meine Zellengenossen beim Hofgang, einige spielten Volleyball.
Als sie zurückkamen, erfuhr ich endlich, was man uns vorwarf: Wir sollten jenes Flugzeug nach Sofia entführt haben. Drei Personengruppen seien bei der Polizeioperation verhaftet worden: die wegen der Flugzeugentführung Verdächtigten, die Redaktionsmitglieder der revolutionären Zeitschrift Aydınlık und diejenigen, die angeblich das Attentat auf den Kommandeur der Gendarmerie verübt hatten.
Alle vor mir Verhafteten waren bereits gefoltert worden. Von Akay Sayılır, Emil Galip Sandalcı, Abdi Yazgan, Erdal Öz, Ömer Madra, Nejat Bayramoğlu und noch einigen anderen erfuhr ich in allen Einzelheiten, wie es in den Folterräumen der Kontrgerilla zuging. Einige von ihnen waren auch in das berüchtigte Militärgefängnis von Mamak geschafft worden, und da mein eigenes Verhör wohl auch dort stattfinden würde, erläuterten mir die Kameraden,
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