Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
darüber nach, wie ich wohl über die Grenze kommen würde. Zwar hatte ich einen Pass, aber vielleicht erkannten sie ja, dass er falsch war.
Auf so langen Fahrten fragen sich die Reisenden oft gegenseitig Löcher in den Bauch, also musste ich auf der Hut sein, um mich nicht zu verraten. Vor dem Toilettenspiegel sagte ich mir mehrfach vor: »Mehmet Yılmaz Basmacı, Mehmet Yılmaz Basmacı!« Auch Geburtsort und -jahr und den Namen meines Vaters musste ich jederzeit parat haben. Mit Herzklopfen ging ich diese Angaben immer wieder durch. Nach etwa einer Stunde begann der mitfahrende Polizist die Pässe zu kontrollieren. Ich stand im Gang und rauchte. Als er zu mir kam, griff ich in die Tasche, aber er winkte ab. »Schon gut, hat keine Eile«, sagte er. Ich bot ihm eine Zigarette an.
»Das ist vielleicht eine Arbeit hier«, klagte er. Da ich ihm von dem Träger anvertraut worden war, redete er mit mir, als ob wir uns schon ewig kennten. »Die Terroristen laufen davon, und ich soll sie wieder einfangen. Ja wie denn? In diesem riesenlangen Zug? Warum kriegen die überhaupt Pässe?«
Mir gefror das Blut in den Adern.
»Da heißt es ganz schön aufpassen«, sagte ich.
Er erwiderte: »Na ja, man sieht ja, ob einer ein Terrorist ist.«
Schließlich ließ er sich meinen Pass geben und stempelte ihn ab, ohne ihn wirklich zu kontrollieren. Ich atmete auf. Die erste Etappe war geschafft. Doch solange ich mich auf türkischem Boden befand, gab es keine Entwarnung.
Gegen Mitternacht kamen wir an der Grenze an, aber der Zug blieb kurz davor stehen. Ich konnte es nicht erwarten, bis er wieder anfuhr und die letzten paar Hundert Meter zurücklegte. Warum warteten wir überhaupt? Hatte es vielleicht mit mir zu tun? Nervös kaute ich an den Fingernägeln. Die halbe Stunde dort kam mir vor wie eine Ewigkeit.
Dann ging ein Rütteln durch den Zug, und wir fuhren auf bulgarischen Boden. Ich war frei. Es begann ein neuer Lebensabschnitt, der elf Jahre dauern und voller Freud und Leid und voll schöpferischer Arbeit sein sollte.
»Hallo Europa!«, rief ich innerlich. »Hier bin ich, Mehmet Yılmaz Basmacı!«
I ch selbst war erleichtert, als wir über die Grenze waren, aber der Rest des Zuges wurde von zunehmender Unruhe erfasst. Die Reisenden, allesamt Männer, standen in den Gängen rauchend in kleinen Grüppchen zusammen und sprachen darüber, wie man sich den besten Zugang nach Deutschland verschaffte.
Dort und in den anderen europäischen Ländern galt damals für Türken keine Visumspflicht. Man musste allerdings die Grenzpolizei davon überzeugen, dass man als Tourist einreiste, sonst wurde man unverzüglich zurückgeschickt. Den Männern im Zug, die samt und sonders in Deutschland arbeiten wollten, kam es also darauf an, einen anderen Anschein zu erwecken. Ein Erfahrener gab ihnen Ratschläge, wie sie sich anziehen und verhalten sollten, um als wohlhabende Touristen durchzugehen, aber die meisten wussten bereits Bescheid. Der Mann sagte noch: »Das ist jetzt mein achter Versuch. Wenn es wieder nicht klappt, bring ich mich um.«
Wir fuhren durch die verregnete bulgarische Ebene. In einer jugoslawischen Kleinstadt sahen wir einen kleinen Hochzeitszug. Ich war so gelöst, dass mich gar nicht kümmerte, ob sie mich nun nach Deutschland hineinließen oder nicht. Die Spannung im Zug wuchs aber stündlich an. Überall sorgenvolle Gesichter. Es wurde geraucht wie verrückt.
Es war bereits wieder Nacht, als der Zug mit einem Ruck in Salzburg anhielt. Ich lag im Schlafanzug auf der obersten Pritsche des Liegewagens und schlummerte selig. Die Tür ging auf, ein eisiger Luftzug wehte herein, und kräftige österreichische Grenzpolizisten riefen: »Die Pässe bitte!« Schlaftrunken griff ich unters Kopfkissen und holte den Pass von Mehmet Yılmaz Basmacı hervor, der anstandslos abgestempelt wurde. Ich durfte nach Deutschland.
Um zu sehen, was draußen los war, ging ich auf den Gang hinaus. Die Polizisten zogen gerade eine Abteiltür auf und fanden dort acht gewinnend lächelnde Männer vor, die alle einen blauen Anzug trugen. Einige hatten sich sogar Brillantine ins Haar geschmiert. Sie hätten in einen Ballsaal gepasst, aber nicht in einen Zug mitten in der Nacht. Die Polizisten ließen die Männer aussteigen und kontrollierten das nächste Abteil, wo sie wieder von blaugewandeten Männern angelächelt wurden.
Jeder, der einen blauen Anzug trug, wurde des Zuges verwiesen. Als wir weiterfuhren, sah ich zum Fenster hinaus und
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