Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
sah in der fahlen Bahnhofsbeleuchtung wie auf einem traurigen Magritte-Bild Dutzende von Männern in Anzug und Krawatte neben ihren armseligen Koffern stehen und sehnsuchtsvoll dem Zug hinterherblicken.
Ich dachte später noch oft an jene Szene zurück, die mir wie ein Symbol unseres mehr als zweihundertjährigen Strebens nach Europäisierung erschien. Es galt erst einmal zu begreifen, dass man nicht zum Europäer wird, indem man europäische Kleidung und westliche Lebensformen einfach nachahmt. Da ich geschlafen und die Polizisten gar nicht erwartet hatte, war ich – trotz meines falschen Passes – ich selbst geblieben und somit nach Deutschland hineingekommen. Die Männer jedoch, die sich verkleidet hatten, um sich bei den Europäern einzuschmeicheln, hatten verloren.
Am Morgen fuhr der Zug in München ein, wo ich Richtung Hamburg umstieg. Der Bahnhof war voller Leute, und was mir am meisten auffiel, war der andere Geruch, der in der Luft lag. In eine andere Duftwelt einzutauchen gilt mir noch heute als ausgeprägtestes Merkmal einer Auslandsreise.
Der Zug nach Hamburg war sehr komfortabel und geradezu ein Luxusgefährt im Vergleich zu dem vorherigen. Ich schmiegte mich in den breiten, bequemen Sitz und ließ die deutsche Landschaft an mir vorbeiziehen. Wir sahen prächtige Schlösser und in der Sonne glänzende gepflegte Felder. Alles strahlte Wohlstand, Ordnung und einen hohen Entwicklungsstand aus. Anhand eines ausliegenden Fahrplans verfolgte ich unsere Ankunfts- und Abfahrtszeiten. Der Zug fuhr exakt zur angegebenen Zeit in den jeweiligen Bahnhof ein und nicht nur minuten-, sondern sekundengenau wieder ab.
Außer mir saßen noch zwei Personen im Abteil. Zum einen ein Türke, ein schmächtiger Schneider aus Samsun, der die Hürde mit den Grenzpolizisten irgendwie genommen hatte. Aus dem grundsätzlichen Misstrauen eines anatolischen Dorfbewohners heraus wollte er trotzdem auch weiterhin verheimlichen, dass er eigentlich zum Arbeiten gekommen war. Die andere Reisende war eine junge Deutsche. Als ich rauchen wollte, fragte ich sie auf Englisch, ob sie das störe. Sie verneinte und wollte nur das Fenster ein wenig aufmachen. So kam ein Gespräch in Gang, dem der Schneider aus Samsun argwöhnisch lauschte. Das Mädchen studierte in den USA und fuhr auf Besuch zu ihrer Familie. Wir unterhielten uns eine Weile, dann brach das Mädchen in den Speisewagen auf und fragte, ob ich mitkommen wolle. Da ich nicht viel Geld dabeihatte, lehnte ich dankend ab. Kaum war sie draußen, beugte sich der Schneider aus Samsun mit verschwörerischer Miene zu mir vor.
»Was hat sie denn gesagt? Wollte sie, dass du Christ wirst und sie heiratest?«
Verdutzt sah ich ihn an. Erst allmählich dämmerte mir, was vielen Türken, die nach Deutschland fuhren, für verschrobene Bilder im Kopf umherschwirrten und wie sehr sie den Mythos von der europäischen Frau verinnerlicht hatten, die auf einen türkischen Mann wartete.
Am Hamburger Bahnhof paradierten schnauzbärtige Türken wie auf der Suche nach der blonden Deutschen, die sich in ihre starken Arme zu werfen gedachte. Die kam zwar nie, aber was machte das schon? Der Vorplatz war voller Betrunkener und Obdachloser, manche übergaben sich auf den Boden. Das war vermutlich die Kehrseite all der Ordnung und Sauberkeit. Ich wandte mich an eines der herumschlendernden Grüppchen von Türken und fragte nach einem billigen Hotel. Es waren finstere, misstrauische Typen, die mir keine rechte Auskunft geben wollten.
So ging ich ins erstbeste Hotel gegenüber dem Bahnhof. Es war etwas teuer, aber ich konnte einfach nicht mehr. Ich duschte noch schnell und kam dann endlich wieder in ein anständiges Bett.
D ie skandinavischen Länder übten zu jener Zeit eine magische Anziehungskraft auf mich aus. Ich war ein eingefleischter Strindberg-Fan, und wenn ich Sibelius oder Grieg hörte, durchströmten mich wahre Glücksgefühle.
Griegs Norwegen war für mich auch die Heimat von Edvard Munch und Knut Hamsun. Als ich Hamsuns Landstreicher las, war ich so fasziniert von der Hauptfigur, die im Sommer ihr Bauernhaus anstrich, dass ich bei uns zu Hause den Fliegenschrank in der gleichen Farbe anmalte. Den beißenden Geruch jener Farbe an den Händen assoziierte ich kühn mit den Wäldern in dem Roman, den schäumenden Flüssen, in denen riesige Baumstämme trieben, und den einsam gelegenen Sommerhäuschen des hohen Nordens.
Außerdem war ich ein Bewunderer der demokratischen Traditionen
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