Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
Kunstakademie.
Die Hulda kam mir vor wie ein Wikingerschiff. Überall waren Hängematten aufgespannt, in denen die Kinder schaukelten. Auf dem Tisch lagen zwischen halbgeleerten Weinflaschen alle möglichen Zeichnungen herum. Mittags wurden in einem riesigen Topf Nudeln mit Knoblauchsoße gekocht und gemeinsam gegessen.
İlhan war gerade mit einer Skulpur für die Zentrale des schwedischen Konzerns Atlas Copco beschäftigt. Er hatte in die Felsen vor seinem Boot eine Höhle hineingeschlagen, die er als Werkstatt benützte. Zahllose Skulpturen standen darin herum. Für Atlas Copco bog er eine Stahlplatte in bisher ungesehene Formen. »Ich versuche, dem Volumen den Garaus zu machen«, sagte er zu mir.
Ich blieb die erste Zeit auf der Hulda wohnen, jenem schwimmenden Asyl für heimatflüchtige Türken. Dort entstand nicht nur Avantgarde-Kunst, İlhan machte sich auch seine Gedanken über das Geschehen in der Türkei. Über das wusste er bestens Bescheid, denn es waren vor mir schon einige Landsleute gekommen. Auch in den paar Tagen, die ich bei ihm wohnte, kreuzte ein Asylbewerber nach dem anderen auf.
»Pass auf«, sagte er, »das Osmanische Reich wurde doch der kranke Mann Europas genannt. Was haben wir eigentlich bewirkt mit der Einführung der Republik? Wir haben das Haus des kranken Mannes mit türkischen Fahnen zugepflastert und sind dann mit Tschingderassabum daran vorbeidefiliert. Und wir haben dem Ganzen einen neuen Namen verpasst. Dabei ist der Kerl noch genauso krank wie zuvor.«
Obwohl İlhans mehr als zwanzigjähriges Exil freiwillig war, wurde er ein gewisses Heimweh nicht los. Er fühlte sich in Schweden manchmal Kränkungen ausgesetzt. Mochte er auch ein bekannter Bildhauer und Dozent der Kunstakademie sein, so galt er vielen eben immer noch als »Schwarzkopf«, wie Ausländer von den blonden Schweden gerne genannt wurden.
Für das neue Parlamentsgebäude war bei İlhan ein Relief mit dem schwedischen Königswappen in Auftrag gegeben worden. Er hatte monatelang daran gearbeitet und Beeindruckendes geleistet. Als wir davor standen und ich ihm zu dem Werk gratulierte, flüsterte er mir zu: »Da steckt noch ein kleines Geheimnis dahinter. Auf die Rückseite habe ich nämlich geschrieben: ›Das da hat ein Schwarzkopf gemacht.‹ Falls das Relief irgendwann mal abgemacht wird.«
Das war sein verschmitzter Ausdruck für das Gefühl der Fremdheit, das er in Schweden immer noch empfand. So hatte er, von dem auch die Reliefs im Ostflügel des Atatürk-Mausoleums in Ankara stammten, dem schwedischen Parlament seinen türkischen Stempel aufgesetzt.
Er war ein stiller, im Grunde einsamer Mann. Hätte er sich als junger Mensch nicht in Stockholm, sondern in Paris niedergelassen, hätte er so berühmt werden können wie Brâncuşi. So kennt man ihn heute nur noch in Kunstkreisen.
Unzählige Türken hat er auf seinem Boot empfangen: Studenten, Asylanten, Künstler, nicht zuletzt auch Yaşar Kemal. Dem in Paris lebenden Maler Abidin Dino schickte er manchmal ineinanderverschachtelte kleine Holzfiguren, ganz seltsame Spielfiguren, die er »Derwische« nannte.
An einem eiskalten Dezembertag des Jahres 1986 starb İlhan, ohne seine geliebte Heimat je wiedergesehen zu haben. Wie er es testamentarisch bestimmt hatte, wurde seine Asche in alle Winde zerstreut. Und darum grüße ich ihn auch jedes Mal, wenn ich in Istanbul an seiner großen Frauenfigur vorbeikomme, die das Mittelmeer darstellt. Ein Grab, an dem wir seiner gedenken könnten, hat er uns ja nicht hinterlassen, als Ersatz aber vielerorts Statuen.
»Na, du Heiliger!« So redete er seltsamerweise jeden an. Mich empfing er damals, als hätte er schon jahrelang auf mich gewartet.
V on den türkischen Asylbewerbern, die auf das Boot kamen, ist mir einer besonders in Erinnerung geblieben, nämlich Ayhan, ein melancholischer junger Bursche, der mit İlhan schon vertrauten Umgang pflegte. Kurze Zeit später heuerte er auf einem Nordseeschiff an und stürzte sich während einer Nachtwache in das eiskalte Wasser. Es kamen danach Gerüchte auf, die Tat sei kein Selbstmord gewesen, sondern ein von Matrosen begangenes Verbrechen.
Nach ein paar Tagen wurde ich in einer der Villen untergebracht, die man einst rund um Schloss Drottningholm für Leute errichtet hatte, die im Dienste der Königin standen. Sie gehörte einem Mädchen namens Cilla und ihrer Familie. Cilla vermietete bereits seit langem Zimmer an türkische Exilanten, und ich fühlte mich dort
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