Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
Herausbildung einer nationalistisch orientierten Jugend, um die beiden Gruppierungen aufeinanderzuhetzen. Dies sollte an die 5.000 junge Menschen das Leben kosten.
Als die Aktivitäten der als Linkenhasser bekannten Nationalisten überhandnahmen, wollte man sie wieder loswerden und erhoffte sich Abhilfe durch die Gründung anderer Organisationen, diesmal aus der islamistischen Ecke, die ebenfalls gegen die Linken in Stellung gebracht werden konnte. Das gesellschaftliche Gleichgewicht in der Türkei ging endgültig verloren.
Dass die Türkei heute in drei große Gruppen aufgespalten ist, liegt vor allem am ständigen Eingreifen jener, die mit ihrem »Social Engineering« jede natürliche Entwicklung unterbinden. Hätten – so wie in den westlichen Demokratien – eine gemäßigte Rechte und eine gemäßigte Linke wie zwei große Ströme dahinfließen können, so wäre heute das Denken vieler Menschen nicht derart von ethnischen und religiösen Kriterien geprägt. Damals waren sowohl auf rechter wie auf linker Seite noch unterschiedslos Türken, Kurden und (wenn auch in geringem Ausmaß) Armenier und Griechen aktiv, und keiner hielt sich für besser als die anderen. Wer es damals darauf abgesehen hatte, diese Menschen aus ihren ursprünglichen politischen Bindungen herauszulösen und sie untergeordneten Identitäten zu verpflichten, meinte fälschlicherweise, damit der Einheit der Türkei einen Dienst zu erweisen.
Nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis fuhr ich zu unseren Vermietern, um unsere Sachen abzuholen. Wir luden alles auf einen Lastwagen und setzten uns anschließend in den herrlichen Garten der Villa und tranken Rakı. Der Doktor wehrte alle meine Dankesbezeugungen ab. Er bedauerte, an unserer Sache nicht direkt mitwirken zu können, aber er wolle wenigstens die Genugtuung verspüren, uns auf seine bescheidene Weise zu unterstützen. Er sei überzeugt, dass es in der demokratischen Türkei von Morgen ganz anders zugehen werde.
Voller Gefühle der Dankbarkeit verließ ich gegen Mitternacht die Villa des Doktors. Um den letzten Bus nach Istanbul noch zu bekommen, musste ich laufen, fiel dabei hin und brach mir einen Arm. Während wir in Istanbul Fuß zu fassen versuchten, wechselte er seine Farbe von der eines überreifen Pfirsichs bis zu der einer Aubergine.
Ich ging wieder ins Studio und versuchte zu singen, aber es erging mir dabei schlimmer denn je. Meine Stimme war weg, und ich brachte nur ein Röcheln heraus. Ich nahm alles Mögliche dagegen ein und probierte es immer wieder mit Halssprays, aber ohne jeden Erfolg.
Immer mehr lag mir der Gedanke am Herzen, die Musik der anatolischen Volkssänger zusammenzutragen und damit eine Serie von Platten aufzunehmen. Jene Musiker würden sonst allmählich mit ihren Schätzen wegsterben. Falls nach dem Vorbild des amerikanischen Labels Folkways eine große Plattenfirma diese Musik veröffentlichen und dazu Erläuterungen herausgeben würde, so würde sie sich damit sehr verdient machen. Und war nicht in Griechenland die Rembetiko-Musik systematisch archiviert worden? So begann ich also mit einigen Volkssängern zu arbeiten und mit ihnen Studioaufnahmen zu machen. Kaum vergingen ein paar Wochen, wimmelte es bei uns zu Hause von ihnen. Die Nachricht von meiner Unternehmung schien sich in Anatolien wie ein Lauffeuer zu verbreiten. In den entlegensten Dörfern griffen Leute zu ihrer Saz und machten sich auf den Weg nach Istanbul. Ich konnte mich nur wundern, was ich da ausgelöst hatte. Wenn unser Hausmeister irgendwo im Viertel jemanden mit einer Saz in der Hand herumirren sah, brachte er ihn sogleich zu uns, denn wir waren unweigerlich das gesuchte Ziel.
Das währte so lange, bis mich eines Tages mein Freund Onat Kutlar zum Mittagessen einlud und sich mein Leben von Grund auf änderte.
D er holländische Parlamentsabgeordnete Piet Dankert war damals als Vertreter des Europarats nach Istanbul gekommen, um sich über Unterdrückung und antidemokratische Maßnahmen in der Türkei zu informieren, und Onat Kutlar wollte mich wegen meiner Inhaftierung mit ihm zusammenbringen. Dankert, der spätere Vorsitzende des Europäischen Parlaments, war ein umgänglicher Mann, der sich wegen der Entwicklungen in der Türkei ernsthafte Sorgen zu machen schien. Er fragte mich nach den Zuständen in den Gefängnissen, und ich erzählte, was mir widerfahren war.
Wir hatten in dem Restaurant am Taksim-Platz alle drei Lammbein mit Auberginen bestellt, aber ich rührte
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