Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
jetzt ein paar Regeln fest!«
Diese Regeln wirkten tatsächlich, und die Streitigkeiten legten sich.
Eines Tages hörte ich Hüseyin ein Lied vor sich hin brummen. Es waren nur Textfetzen, und auch die Melodie brachte er nicht ganz zustande. Ich aber auf meiner ständigen Suche nach neuen und alten Liedern bohrte nach und entlockte ihm schließlich so gut wie den ganzen Text. Es ging in dem Lied um einen Mann namens Şükrü aus Rize, der aus der Festung Sinop flüchtet, indem er ins Schwarze Meer springt, und der Refrain lautete: »Dem edlen Räuber kann die Welt nicht gehören«.
Das Lied sollte später zum Grundbaustein einer meiner erfolgreichsten Platten werden.
Fünfundzwanzig Jahre nach jener Zeit, im Mai 1997, und gar nicht weit weg von dem Gefängnis, nämlich im alten Hippodrom von Ankara, stand ich auf einer Bühne, vor mir die unglaubliche Menge von 5.000 Menschen, die in donnerndem Chor die Lieder sangen, die ich im Gefängnis geschrieben und komponiert hatte. In den Zeitungen würde es am Tag darauf heißen, es sei das größte Konzert gewesen, das in der Türkei je gegeben wurde. Ich dachte in jenen bewegenden Momenten an die Zelle im Militärgefängnis zurück. Die Lieder, die dort entstanden waren, kannte zunächst nur ich, dann meine nächste Umgebung, und wie die Wellen, die sich bilden, wenn ein Stein ins Wasser fällt, breiteten sie sich immer weiter aus, bis sie schließlich Bestandteil der Kultur dieses Landes wurden.
Wenn wir Hofgang hatten, gingen einige von uns immer zum Stacheldrahtzaun und lugten zu der weit entfernten Frauenabteilung hinüber. Manche hatten dort drüben ihre Frau, ihre Verlobte, ihre Freundin. Nejat Bayramoğlu etwa war von seiner Frau getrennt worden, als die Polizei in der Nacht in seine Wohnung eingedrungen war. Abgesehen von einer Gegenüberstellung während der Folter hatten sie sich seither nicht mehr gesehen und auch keine Nachrichten austauschen können. Während des Hofgangs stellte er sich immer wieder an die gleiche Stelle am Zaun und fuhr sich mit der Hand durchs Haar, als würde er sich kämmen. Gegenüber vollführte eine nur undeutlich wahrnehmbare Frau die gleiche Geste wie er.
Wir anderen spielten draußen manchmal Volleyball. Einmal hörte ich dabei, wie mein Name geflüstert wurde, noch dazu von einer Frauenstimme. Das konnte aber nicht sein, ich musste mich getäuscht haben. Ich spielte weiter, aber das Flüstern wiederholte sich.
Möglichst unauffällig sah ich mich um, und da fiel mir die hüttenartige Einzelzelle auf, die erst wenige Tage davor im Hof gemauert worden war. Die Zelle hatte ein Belüftungsloch, und von dort kam die Stimme. Ich klinkte mich aus dem Spiel aus und zündete mir neben der Zelle eine Zigarette an. Dabei spähte ich durch das Belüftungsloch und erblickte zu meinem Entsetzen Ülkü, die Frau unseres Freundes Erdal Öz. Sie war geschminkt; sogar in dem Zellendunkel leuchtete das Rot ihres Lippenstifts. Sie flüsterte mir zu, sie sei von Soldaten aus ihrer Apotheke verschleppt und direkt hierhergebracht worden. Sie passte so gar nicht in diese furchtbare Zelle, und ich wusste nicht, wie ich sie trösten sollte. Was hatte sie nur gemacht, dass sie sie dort eingesperrt hatten? Der Hofgang war beendet, und ich musste zurück. Am folgenden Tag war Ülkü nicht mehr da.
Einige Zeit später wurde ich entlassen, mit den Nerven völlig am Ende. Draußen erwartete mich ein Berg von Sorgen. Unser Verlag war geschlossen worden, unsere Bücher beschlagnahmt. Wir waren somit ohne jegliches Einkommen. Was wir in großer Mühe Stein für Stein errichtet hatten, war niedergerissen worden.
Obwohl mein »Vergehen« über Lesen, Schreiben und Denken nicht hinausging, sollte ich aufgrund meiner linken Weltanschauung in meiner Existenz vernichtet werden. Die Barbaren beraubten mich meiner Arbeit, überfielen mich in meiner Wohnung, sperrten mich unter Verleumdungen ein, folterten auf unsägliche Weise, hängten Studenten auf und verwandelten das Land in eine Hölle.
Was weltweit als Studentenbewegung begonnen hatte, führte in der Türkei durch die mörderische Haltung des Staates zur Gründung rachedürstender Organisationen, durch die wiederum das Land in jahrelange blutige Auseinandersetzungen gestürzt wurde.
Die zivilen und militärischen Führer der Türkei wollten den Teufel mit dem Beelzebub austreiben. Da sich in der Türkei, einem Frontstaat des Kalten Krieges, eine linke Studentenbewegung entwickelte, förderte man die
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