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Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Titel: Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zülfü Livaneli
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ständig einen anderen Status zugeteilt und wurde unterschiedlich behandelt? Und musste mir einen falschen Pass für einen Staat besorgen, der mir danach einen Diplomatenpass gab?
    Musste ich mich 1973 mit meinem UN -Flüchtlingspass noch peinlichsten Kontrollen unterziehen, so wurde ich später auf europäischen Flughäfen an allen Warteschlangen vorbeigelotst.
    Daran wird deutlich genug, wie sehr die vom Menschen geschaffene bürokratische Ordnung im Widerspruch zu wahrer Menschlichkeit steht. Aus einer Druckerei stammende Papiere werden weit wichtiger genommen als die Frage, wie es um jemandes Seele, sein Herz, seine Aufrichtigkeit oder sein Wissen bestellt ist. Je nach der Farbe des Papiers wird man entweder herumgestoßen oder mit Bücklingen empfangen.
    Als ich für einen schwedischen Fernsehfilm die Musik komponieren sollte, verwandte ich darauf viel Mühe und war schließlich mit dem Ergebnis zufrieden. Die Musik war sehr kurz und lief nur im Vor- und Nachspann, aber es war eben meine erste Filmmusik, und ich verdiente zum ersten Mal Geld damit. Später komponierte ich noch weitere 35 Filmmusiken.
    Danach kam das Plattenangebot der Firma Coodiff. Die Platte sollte in Schweden aufgenommen werden, und so mieteten wir für einen Tag ein Studio bei Europafilm in Stockholm, und ich begann mich vorzubereiten.
    Ich fürchtete, mir würde es genauso ergehen wie bei den Aufnahmen in Istanbul. Bestimmt würde mir wieder die Stimme versagen und das Plattenprojekt deswegen scheitern. Am besten war es, sich gleich gar nicht darauf einzulassen. Ein befreundetes Paar aus Ankara, Sait und Gülder, war damals im Begriff, sich in Schweden niederzulassen, und wohnte kurzfristig bei uns. Am Tag der Aufnahmen steigerte sich meine Angst ins Unermessliche, und ich verkündete, nicht hinzugehen. Doch Ülker und Sait hatten sich zuvor schon abgesprochen. Sie zerrten mich fast mit Gewalt aus dem Haus, setzten mich in ein Taxi und fuhren mich zu Europafilm. Und schon stand ich vor dem Mikrofon.
    »Denk an die Türkei«, sagte ich mir. »Denk an das Militärgefängnis und an die Leute, die da jetzt sitzen.«
    Ich probierte auf der Saz ein paar Akkorde. Mir kam es vor, als ob die Harmonien einen weichen Teppich bildeten, über den ich hinwegschreiten konnte. Ich fing an zu singen und fühlte mich gleich von Wärme durchströmt. Ich ging bis an die Grenzen meiner Empfindsamkeit; ein Schritt weiter wäre ein Schritt in den Abgrund gewesen.
    Nach und nach lösten sich meine Befürchtungen auf. Der Klang meiner Stimme schien plötzlich nicht mehr wichtig zu sein; Hauptsache, es gelang mir, die Botschaft der Lieder zu vermitteln.
    Später fand ich bei Tolstoi ein Kapitel, in dem geschildert wird, wie man zum wahrhaften Musizieren gelangt. Als am Ende der berühmten Jagdszene in Krieg und Frieden der Muschik zur Balalaika singt und sich damit eigentlich nur das Herz erleichtern will, schildert Tolstoi das als Mittel, um zum wahren Wesen der Musik vorzustoßen.
    Ohne mir darüber klarzuwerden, ließ ich das Technische hinter mir und drang zum Wesentlichen vor, so als ob der durch das Mikrofon und von dort auf das Magnetband strömende Ton nicht mehr einem Instrument und einer Kehle entstammte, sondern direkt dem Pochen meines Herzens.
    So sang ich ein Lied nach dem anderen. Plötzlich merkte ich, dass ich am Ende angelangt war. Erst dann kam ich wieder richtig zu mir. Fast eine Stunde war vergangen. Ich sah Ülker im Regieraum stehen und weinen. Kurz darauf kam sie zu mir und sagte: »Das wird unvergesslich bleiben.«
    Ich selber dachte aber bald schon kaum mehr an die Sache. Die Platte kam in Belgien unter dem Titel Chants Révolutionnaires Turcs heraus, und mir wurden ein paar Exemplare davon zugeschickt, die ich signierte und an Freunde verschenkte. Eine Einfuhr der Platte in die Türkei wurde verboten.
    Ein paar Monate später kam uns mein Bruder Ferhat besuchen, der inzwischen in Ankara Wirtschaft studierte. Er sagte: »Auf Studentendemos werden deine Lieder gesungen.« Ich dachte, ich hörte nicht recht. Alles hätte ich erwartet, aber nicht das. Ich hatte vermutet, die Platte würde sich in Belgien und ein paar anderen europäischen Ländern mehr schlecht als recht verkaufen und dann vergessen werden. Es stellte sich aber heraus, dass türkische Studenten und Gastarbeiter sie auf Kassetten aufgenommen und so in die Türkei geschafft hatten, wo sie dann laufend weiterverbreitet und zu einem Symbol des Widerstands gegen den Putsch geworden

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