Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
hatten wir möbliert gemietet, und unser aus Türken, Iranern, Ungarn, Südamerikanern und Schweden bestehendes Umfeld in Kungshamra sorgte dafür, dass es uns an nichts fehlte. Die Behörden vergaben Stipendien zum Schwedischlernen, von denen allein wir schon leben konnten. Ohnehin wollten wir so schnell wie möglich Schwedisch lernen und machten durch die Kurse auch rasche Fortschritte. Nach einem halben Jahr beherrschten wir die Sprache schon ziemlich gut, und Aylin war jung genug, um sie bald sogar mit Stockholmer Akzent zu sprechen. Später lernte sie mit verblüffender Leichtigkeit noch andere Sprachen hinzu. Ülker wiederum kam so gut vorwärts, dass sie nach Ablauf eines Jahres bereits Schwedischunterricht für Ausländer erteilte.
Im Bildungsbereich war Schweden ein geradezu ideales Land. Wer sich fortbilden wollte, konnte – ob In- oder Ausländer – in jedem Lebensalter ein Studium beginnen und wurde mit großzügigen Stipendien sogar dazu ermuntert. Eine Kindergärtnerin konnte jederzeit ein Pädagogikstudium dranhängen, und es war auch keine Seltenheit, dass selbst in fortgeschrittenem Alter ein Schreiner Musik studierte oder ein Lehrer ein Ingenieurstudium aufnahm. Wir schrieben uns in diesem Paradies sofort an der Uni ein, worauf wir Stipendien und unsere Studentenwohnung bekamen. Ülker studierte Pädagogik und ich Philosophie. Später machte ich auch eine Musikausbildung am Dalcroze-Institut.
Wie viele Schweden trug ich nur noch Jeans und die »träskor« genannten Clogs. Nachmittags trieb ich mich stundenlang in Buchhandlungen herum, vor allem dort, wo englische Bücher verkauft wurden. Von Avantgarde-Literatur über Soziologieund Geschichtswerken bis hin zu Büchern über Film las ich alles, was mir in die Hände geriet. Leider konnte ich bei weitem nicht alle Bücher kaufen, denn unser Geld reichte gerade zum Leben, und Bücher waren teuer.
Die Stockholmer Türken waren zum Großteil in nihilistische Leere abgeglittene politische Asylanten. Die meisten von ihnen lebten ohne Familie im Land und kamen mit der auf sie kalt wirkenden schwedischen Gesellschaft nicht zurecht. Viele resignierten und wandelten nur noch als Schattengestalten umher.
Nachrichten aus der Türkei bekam ich so gut wie keine. Alles lag so unendlich weit zurück. Ich weiß noch, wie ich damals einmal schrieb: »Im Exil zu leben ist wie eine lange schwere Krankheit.« Und wirklich erinnert einen nach einer Weile alles schmerzlich daran, dass man ein Fremder ist.
Dann kam der schwedische Winter, in dem sich Kälte und Dunkelheit wie ein Zylinder um uns legten. Wenn wir morgens aufstanden, war es noch stockdunkel, selbst dann noch, wenn Aylin zur Schule ging. »Mama, warum muss ich denn mitten in der Nacht aufstehen?«, klagte sie immer. Gegen Mittag wurde es einigermaßen hell und ein paar Stunden später schon wieder dunkel. Wie ein Freund von uns so treffend sagte: »In Schweden geht die Sonne per Kaiserschnitt auf.«
Nach einer Weile kam es in der Türkei zu einer Amnestie, und ich ging in die türkische Botschaft, um einen Pass zu beantragen.
Wie mein Leben verlaufen ist, lässt sich gut anhand meiner Pässe verfolgen. Als Erstes hielt ich jenen falschen Pass auf den Namen Mehmet Yılmaz Basmacı in der Hand. Nach meiner Anerkennung als politischer Flüchtling bekam ich einen hellblauen Pass von den Vereinten Nationen. Er war von der untersten Kategorie, was Reisebeschränkungen und ständige Kontrolle bedeutete. Erst nach der Amnestie im Jahre 1974 wurde mir in der türkischen Botschaft in Stockholm ein türkischer Pass auf meinen eigenen Namen ausgestellt. Als ich 1996 bei einer Feier in Paris zum UNESCO -Botschafter und Berater des Generaldirektors ernannt wurde, händigte man mir den roten Pass der Vereinten Nationen aus, der mir diplomatische Immunität und eine Vorzugsbehandlung in Krisenzeiten zusicherte. 2002 wurde ich zum Abgeordneten des türkischen Parlaments gewählt und bekam daraufhin den roten Diplomatenpass der Türkei. Als ich zum Vertreter der Türkei im Europarat bestimmt wurde, stellte mir auch dieses Organ einen Ausweis aus.
Das Traurige und zugleich Lächerliche an dieser Passgeschichte ist, dass diese Pässe allesamt ein und demselben Menschen gegeben wurden. Ich war damals, als ich den falschen Pass in der Tasche hatte, derselbe, der ich heute bin. Und mit dem blauen UN -Pass, mit dem ich überall misstrauisch beäugt wurde, war ich kein anderer als heute mit dem roten. Warum bekam ich dennoch
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