Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
die Zelle und fragte mich ganz aufgekratzt: »Haben Sie einen Kamm?« Ich sah ihn verdutzt an. Nach allem, was ich bisher erlebt hatte, mussten die Schweden völlig übergeschnappt sein.
»Nein, ich habe keinen Kamm«, antwortete ich schroff.
»Dann nehmen Sie doch meinen!«, gab er zurück und hielt mir tatsächlich einen Kamm hin.
»Was soll ich damit?«
»Na kämmen sollen Sie sich!«
Ich dachte schon, das sei wieder eine neue schwedische Sucht, da sagte der Polizist: »Ihre Frau und Ihre Tochter sind da, denen wollen Sie doch so nicht gegenübertreten?«
Ich war wie vom Schlag gerührt.
»Wo sind sie denn?«, brachte ich heraus.
»Unten. Wir gehen gleich zu ihnen.«
Ich sackte auf mein Bett zurück und brauchte eine Weile, bis ich wieder zu mir kam. Dann holten sie mich auch schon. Ich wurde in eines der unteren Geschosse und dort in einen leeren Raum gebracht, in dem ich warten sollte. Dann ging die Tür auf, fünf, sechs Beamte traten ein und stellten sich zu beiden Seiten des Raumes auf. Sie wollten unserer ersten Begegnung beiwohnen, um sich meiner Identität zu vergewissern.
Zuerst vergingen stille, endlos lange Sekunden, dann sah ich auf einmal die kleine Aylin in der Tür stehen. Mit ihrem süßen Lächeln lief sie auf mich los. Sie hatte eine grüne Bluse an, und ihre honigblonden Haare flogen in die Luft. Als ich sie in den Arm nahm, sah ich Ülker in der Tür stehen. Sie war bleich und hatte abgenommen. Wir umarmten uns alle drei.
Irgendwann packte mich die Wut. Um meine Identität festzustellen, beobachteten die Polizisten um uns herum, wie ich meine Frau und meine Tochter umarmte. Was für eine erniedrigende Situation! Womit hatte ich das alles verdient? In meiner Wut muss ich den Polizisten seltsame Blicke zugeworfen haben, denn sie wirkten auf einmal sehr verlegen und zogen sich diskret zurück. Eine Stunde später wurde ich freigelassen.
Die Ankunft von Ülker und Aylin in Schweden war ein Abenteuer für sich gewesen. Die beiden waren gegen Mitternacht am Stockholmer Flughafen angekommen, und da Ülker sicher gewesen war, dass ich sie abholen würde, hatte sie über alles weitere nicht nachgedacht. Als sie mich unter den Wartenden nicht sah, geriet sie in Panik. Da kam ein junger Mann auf sie zu und fragte, ob sie Ülker Livaneli sei. Sie bejahte, worauf der junge Mann erklärte, er sei ein Freund von mir und solle sie abholen, da ich selber zu tun habe und nicht kommen könne. Sie fragte, was ich denn so Wichtiges zu tun habe, bekam aber keine rechte Antwort. So blieb ihr nichts übrig, als in jenem fremden Land zu zwei völlig unbekannten Männern – es war Ayhan und noch ein anderer Freund – ins Auto zu steigen.
Nach einer mehr als einstündigen Fahrt durch nächtliche Wälder wurden Ülker und Aylin, die noch viel zu klein war, um irgendetwas zu begreifen, ausgerechnet auf ein Boot gebracht, wo der weißhaarige und weißbärtige İlhan Koman sie in einem langen weißen Nachthemd empfing und ausrief: »Willkommen, du Heilige!« Ülker verbrachte dort eine schlaflose Nacht, und erst am Morgen erfuhr sie die Wahrheit und wurde ins Polizeipräsidium gebracht.
Am Tag meiner Freilassung fuhren wir in einen Fichtenwald in der Nähe des Viertels Kungshamra, in dem wir dann wohnen sollten. Von einem Hügel hatte man dort eine wunderbare Aussicht auf einen See, auf dem in der Abendsonne die Enten quakten. Der Wald war voller Eichhörnchen, die ohne Scheu vorbeisprangen. So majestätisch still war es um uns herum, dass wir instinktiv leise sprachen, um die Harmonie der Natur nicht zu stören.
»Vergessen wir die Vergangenheit«, sagte ich. »Wir haben so viel durchlitten, aber hier können wir einen Neuanfang machen. Wir finden hier Ruhe und Frieden, und Aylin wird in einem zivilisierten Land aufwachsen und mehrere Sprachen lernen. Hier können wir uns ein Leben ohne Furcht vor Polizei, Folter und Tod aufbauen.«
I n dem Studentenviertel Kungshamra vermittelten die Häuser mit den roten und gelben Holzrahmen und dem vielen Fensterschmuck einen gemütlichen Eindruck. Auf engem Raum war alles sehr praktisch eingerichtet. In Stockholm verfügten die Wohnungen grundsätzlich über Kühlschrank und Elektroherd, und man hatte Warmwasser und eine Waschküche. So war unsere billige Studentenwohnung komfortabler als eine Durchschnittswohnung in der Türkei.
Abends gingen wir gerne durch den Wald bis zum See hinunter und tranken dort eine Tasse schwedischen Filterkaffee. Unsere Wohnung
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