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Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Titel: Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zülfü Livaneli
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verlief äußerst harmonisch. Ich hatte mich wieder an die Türkei gewöhnt und sie sich an mich.

 
    U   nd dennoch waren es in mancher Hinsicht furchtbare Jahre. Die Anfang der siebziger Jahre durch die Militärs angeheizten Auseinandersetzungen zwischen Linken und Rechten nahmen mittlerweile geradezu bürgerkriegsähnliche Ausmaße an. Tag für Tag erfuhren wir von Morden und feigen Anschlägen. Es traf immer wieder Universitätsprofessoren, Intellektuelle und Künstler, und zum Opfer konnte auch werden, wer nur zur falschen Zeit an einer Bushaltestelle wartete.
    Die Türkei war zum Paradies für durchgedrehte Mörder geworden. Oft sah man in der Zeitung ihre Bilder, nur wenige wurden gefasst: sechzehn-, siebzehnjährige dumpfe Burschen aus der Provinz, denen man eine Waffe in die Hand drückte und sie dann auf die intellektuelle Elite des Landes hetzte. Und jemanden zu töten war ja so einfach; man drückte ab und machte sich aus dem Staub.
    Ich vermochte nicht zu begreifen, wie solche Menschen heranwachsen konnten. Sie hatten das Land in ihrer Gewalt, und das Töten war groß in Mode. Ich dachte darüber nach, was an unseren Traditionen einer solchen Entwicklung Vorschub leisten konnte. In der anatolischen Kultur, in der – außer bei den Aleviten – die Rücksicht auf Lebewesen nicht hoch im Kurs steht, kann das Töten unter bestimmten Umständen sogar als ehrenhaft angesehen werden. Wir waren schließlich in einem Umfeld aufgewachsen, in dem das Töten gutgeheißen wurde, wenn es für das Vaterland, für die Ehre, die Religion oder auch nur für eine Fußballmannschaft geschah, und im Gefängnis genossen ausgerechnet Mörder das höchste Ansehen. Man ging davon aus, dass es Mut brauchte, um jemanden umzubringen. Personen, die man in manch anderer Weltgegend als »niederträchtige Mörder« bezeichnet hätte, wurden bei uns als Helden verehrt, und so ist es auch heute noch. In dieser Hinsicht unterscheiden wir uns auch von der russischen Kultur, mit der wir sonst, wie ich finde, vielerlei Gemeinsamkeiten haben. Ein Raskolnikow, den wegen seines Verbrechens das Gewissen so sehr plagt, dass er sich stellt, um seine Seele zu retten, wäre in einem türkischen Roman eine unrealistische Figur. Unser Seelenleben weist da irgendein Defizit auf.
    Ich passte damals immer besonders auf, wenn ich aus dem Haus ging, und nahm jahrelang Aylin niemals mit. Selbst wenn wir gemeinsam irgendwohin mussten, verließ zuerst ich das Haus und traf mich dann mit Aylin zehn Minuten später an einer Straßenecke.
    Istanbul war zu einer Geisterstadt geworden, da abends kaum mehr jemand aus dem Haus ging und die Kinos, Theater und Lokale leer waren. Wir hockten zu Hause, verfolgten die Nachrichten und entsetzten uns darüber.
    Konzerte zu geben wurde bald so gut wie unmöglich, und so konzentrierte ich mich auf Plattenaufnahmen. Die Nâzım-Hikmet-Lieder hatten sich gegen den Widerstand aus intellektuellen Kreisen durchgesetzt. Eines Tages rief mich Nâzıms Schwester Samiye Yaltırım an, um sich mit mir zu verabreden. Als ich sie aufsuchte, hatten sich noch andere Verwandte Nâzıms eingefunden, die auch den »neuen Musiker« kennenlernen wollten. Samiye Yaltırım war von der Platte sehr angetan und rief immer wieder: »Ach, wenn das nur mein Bruder hören könnte!«
    Nachdem sowohl eine Autorität wie Abidin Dino als auch die Plattenkäufer und sogar Nâzıms Familie hinter den Liedern standen, verstummten allmählich auch die Unkenrufer in der Papirüs-Bar. Das Album hielt sich ein Jahr lang auf der Bestsellerliste, und dem Lied vom Buchenwäldchen galten im staatlichen Rundfunk die häufigsten Hörerwünsche.
    Dadurch gestärkt nahm ich die Arbeit an der nächsten Platte auf und vertonte neben weiteren Nâzım-Texten auch Gedichte von Ülkü Tamer, Refik Durbaş und Ahmet Arif. Daneben schrieb ich eigene Liedtexte. Als im Iran der Schah gestürzt wurde, verfasste ich ein Lied, das die aufkommende Euphorie widerspiegelte. Der Text war voll des Lobes für das iranische Volk, endete aber folgendermaßen: »Ein Baum blüht auf / Sind blutrote Blüten / Sollen nur nicht erfrieren / Wenn scharf der Nordwind bläst.«
    Vasıf fiel dieser Vorbehalt auf. »Wenn es im Iran doch nicht so läuft wie erhofft, dann bist du mit deiner Schlusszeile fein heraus.« So in etwa kam es dann auch.
    Als ich genügend Lieder beisammenhatte, nahmen Attila und ich wieder unsere Arbeit in dem Studio mit den schrecklichen Aufzuggeräuschen auf.
    Kurz

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