Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
so dass Aufrufe zur Mäßigung kaum wahrgenommen wurden. Oft musste ich damals an die Verse der Dichterin Gülten Akın denken: »Ach, niemand nimmt sich Zeit / Das Feine zu verstehen.«
Die Technische Universität des Nahen Ostens war damals eine Hochburg der Linken und wurde immer wieder von Uniformierten umstellt. Später erfuhr ich, dass in den Studentenwohnheimen Tag und Nacht meine Lieder erklangen und bei Razzien die Gendarmerie über Lautsprecher damit empfangen wurde. Selbst islamische Intellektuelle sollten in späteren Jahren die »Jugendsünde« beichten, als Studenten heimlich Livaneli gehört zu haben.
Da meine Zuhörerschaft nicht auf Studentenkreise beschränkt war, sondern meine Lieder sich auch allgemein immer mehr durchsetzten, hätten wir das Leben in der Türkei so richtig genießen können, wenn uns daran nicht zum einen der Terror gehindert hätte, zum zweiten Polizei und Militär und zum dritten ein Teil gerade der Kreise, von denen wir uns am meisten Zuspruch erwartet hatten, nämlich die türkischen Intellektuellen.
Anfangs war ich unter den Intellektuellen noch ein Geheimtipp und wurde als solcher hoch gehandelt. Wenn jemand bei sich zu Hause vor Gästen meine Platten auflegte, galt ich als seine persönliche Entdeckung. Allmählich gewann ich aber an Bekanntheit und erreichte vor allem über das Fernsehen auch breitere Massen, die in mir nicht nur den dezidiert linken Musiker sahen. So hörten mich auch Hausfrauen, junge Mädchen, kleine Angestellte, Leute auf den Dörfern und Fans von Arabeskmusik.
Diese Verbreitung meiner Musik löste bei den elitären linken Intellektuellen diverse Reaktionen aus. Manche wollten keinen Geschmack mehr an etwas finden, das ihnen zu »volkstümlich« geworden war, bei anderen war einfach Neid im Spiel.
Das Fernsehen unterlag damals strenger Kontrolle, aber mit Hilfe von Freunden gelang es mir manchmal, Lieder ins Fernsehen zu bringen, die aus der Feder Nâzım Hikmets stammten. Als ich einmal »Das Epos vom Scheich Bedreddin« sang, nach einem Text Nâzıms über einen osmanischen Mystiker und Rebellen des 15. Jahrhunderts, berief der damalige Oppositionsführer Süleyman Demirel eine Pressekonferenz ein und schimpfte: »Man mutet uns im Fernsehen Lieder über den Revoluzzer Bedreddin zu. Dafür werden wir die Regierung zur Rechenschaft ziehen.«
Süleyman Demirel hatte zuvor schon als Ministerpräsident meine erste Platte verbieten lassen und eine Beförderung meines Vaters beim Kassationshof zu hintertreiben versucht. Sich über einen Scheich aufzuregen, der vor Jahrhunderten gelebt hat, ist genauso typisch türkisch wie die Abscheu mancher vor dem alevitischen Denker Pir Sultan Abdal aus dem 16. Jahrhundert.
Als es bei der Kontrollkommission des Staatsfernsehens TRT zu einer Umbildung kam, wurde mein Freund und Kollege Timur Selçuk in das Gremium berufen, was bei uns allen große Freude auslöste. Zum ersten Mal saß ein ausgewiesener Musiker und noch dazu ein uns freundlich gesinnter Mann in dem unzeitgemäßen Ausschuss, dem er gewiss bald mit Reformen zu Leibe rücken würde. So hoch meine Erwartungen waren, so gewaltig fiel auch der Schock aus, als Timur bei der ersten Sitzung der neuen Kommission ein Aufführverbot meiner Lieder im Fernsehen beantragte und dieses Verbot auch durchsetzte. Ich erfuhr davon in Frankfurt, wo mir vor einem Konzert eine türkische Zeitung in die Hände fiel. Sofort gab ich eine Stellungnahme ab, in der ich der Kommission die Kompetenz absprach, meine Stücke zu beurteilen. Yaşar Kemal schrieb in einer Erklärung, wenn sich in einem Land sogar die Künstler den Zensoren anschlössen, dann sei von diesem Land nicht mehr viel zu erwarten.
Einige Tage darauf gab Timur in einem ganzseitigen Beitrag in Cumhuriyet an, die Entscheidung der Kommission sei nicht gegen Nâzım Hikmet gerichtet, sondern gegen den Komponisten der Lieder. Er warf mit Fachbegriffen um sich, um zu beweisen, dass meine Vertonungen minderwertig seien und ich ein unfähiger Musiker. Dieser Streit löste damals ein großes Echo aus und spaltete die daran Interessierten in zwei Lager. Heute würde ich mich in so einem Fall mit einer kurzen Erwiderung begnügen und nicht mehr empörte Dementis verschicken, denn ob Kompositionen etwas wert sind oder nicht, stellt sich mit der Zeit von selbst heraus. Und ich denke, dass Timur heute auch ganz anders handeln würde. Damals aber trieb uns jugendlicher Eifer zur Konfrontation an. Jahrelang waren wir uns
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