Roman mit Kokain (German Edition)
verschiedener Ämter, Botschaften, Ministerien entdeckten, bestätigte, was einst Lidija Tscherwinskaja behauptet hatte, und fügte ihrem unvollständigen Bericht eine Vielzahl neuer Informationen hinzu. Tatsächlich hatte ein Mark Levi jenes Gymnasium in Moskau besucht, das im ersten Kapitel des Romans so aufschlussreich beschrieben wird, sich später als Student der Jurisprudenz versucht und als Übersetzer in der Handelsorganisation Arcos gearbeitet, einer Institution, die unter dem Einfluss des Geheimdienstes stand. So ist es wahrscheinlich, dass dieser Levi, wenn nicht in dessen Auftrag, so jedenfalls nicht ohne Billigung des Geheimdienstes nach Berlin emigrierte. Die fleißigen Archivare spürten Dokument um Dokument auf und konnten belegen, dass sich Levi, mittlerweile in die Türkei übersiedelt, seit Ende der Dreißigerjahre bemüht hatte, von Istanbul aus wieder zurück in die Sowjetunion zu gelangen. Ein Jude, der in verschiedenen europäischen Ländern gelebt hatte und seine Rückkehr mit offiziellen Eingaben und amtlichen Ansuchen betrieb? Das war in der Ära des Stalinismus für diesen auch dann keine ungefährliche Sache, wenn er wirklich für den Geheimdienst tätig gewesen war. Thomas Urban hält es für möglich, dass Levi 1942 am Anschlag auf den deutschen Botschafter in Ankara beteiligt war und deswegen endlich doch in die Sowjetunion zurückkehren durfte, allerdings nicht nach Moskau, wie er wollte, sondern nach Armenien.
2010 erschien in der armenischen Zeitschrift Jerevan ein bemerkenswertes Interview mit Mark Levis Stieftochter Messalina Jerwandowna Chalejan und seiner Enkelin Mascha Chalejan. Levi hatte nach dem Krieg in Eriwan gelebt, an der Universität Deutsch gelehrt und eine armenische Frau geheiratet, die aus erster Ehe eine Tochter hatte. Diese erinnert sich, dass ihr Stiefvater neun Sprachen beherrschte und in den drei Jahrzehnten, in denen sie zusammenlebten, kein einziges Mal erwähnte, in seinen jungen Jahren einen Roman veröffentlicht zu haben. Als sie 1991, fast zwanzig Jahre nach dem Tod Mark Levis, den Roman mit Kokain zu lesen bekam, habe sie in den Schulgeschichten des ersten Kapitels jedoch lauter Anekdoten wiedererkannt, die ihr Stiefvater zu erzählen pflegte. Auch wusste sie, dass er drei Brüder gehabt hatte, von denen einer in seiner Jugend am Kokain zugrunde gegangen war. Mark Levi selbst sei hingegen sogar dem Alkohol abhold gewesen, ein charmanter, überaus gebildeter Mann, der seine armenische Frau sehr liebte und sie vergeblich zu überreden versuchte, mit ihm nach Moskau zu übersiedeln. Sie starben kurz nacheinander im Jahr 1973, gut ein Jahrzehnt, ehe der Roman, den er mit 35 Jahren verfasst und den er womöglich sogar vergessen hatte, in viele Sprachen übersetzt und in manchen Ländern nachgerade zum Kultbuch wurde.
Ja, dieser Roman hat seinen eigenen Roman, der freilich niemanden interessieren würde, wenn Mark Levi nur ein geschickt verfertigtes Werk der Unterhaltungsliteratur, ein Stück schwarzer Kolportage mit den Ingredienzien Droge, Lüge, Verrat, Absturz und Revolution gelungen wäre. Aber selbst die größten Verehrer des von so vielen verehrten Nabokov hielten es ja immerhin für wahrscheinlich, wenn nicht für ausgemacht, dass dieses Buch vom Meister selber stammte. Diese Einschätzung spricht für sich und dafür, dass Mark Levi kein unbedarfter Sonntagsautor war, sondern mit Roman mit Kokain ein Erzählwerk vorlegte, dessen literarischen Qualitäten er selbst vielleicht gar nicht richtig einzuschätzen vermochte.
Der Roman hat eine ungewöhnliche Struktur, er spiegelt keineswegs, wie da und dort behauptet wurde, von Anfang an eine wahnhaft verformte, in den Trugbildern und Täuschungen der Droge verschwimmende Welt. Der äußeren Form nach ist dies die Konfession eines gewissen Wadim Maslennikow, der von seiner Schulzeit, seiner ihm peinlichen Mutter, seinen sexuellen Abenteuern und endlich von seinem Absturz erzählt. Das erste, dem elitären Privatgymnasium gewidmete Kapitel entwirft in wenigen Szenen nicht nur das Charakterbild eines Lügners und bedenkenlosen Egoisten, der seine Herkunft als Makel empfindet und seine Mutter verleugnet, sondern wie nebenhin eine Soziologie der urbanen Intelligenz unmittelbar vor der Revolution. Der Jude Stein, der jeden Anlass nützt, das Europäertum der Russen zu beschwören; der reiche Jegorow, aus der Provinz stammend und mit siebzehn schon ein Lebemann ganz nach der Mode der Metropole; der gescheite,
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